Kein Zwang im Islam

Irshad Manji ist die Autorin des kontroversen Buches "Der Aufbruch: Plädoyer für einen aufgeklärten Islam", das in über 30 Ländern publiziert und in vielen anderen verboten wurde. Qurratulain Zaman hat sich mit ihr unterhalten.

Irshad Manji ist die Autorin des kontroversen Buches "Der Aufbruch: Plädoyer für einen aufgeklärten Islam", das in über 30 Ländern publiziert und in vielen anderen verboten wurde. Qurratulain Zaman hat sich mit ihr unterhalten.

Irshad Manji; Foto: Nimet Seker
Als muslimische Feministin richtet sich Irshad Manji gegen ein konservatives Islamverständnis und traditionelle Denkverbote.

​​Inwiefern unterscheidet sich das Leben einer liberal eingestellten Muslima in einem westlichen Land von dem in einem islamischen Land?

Manji: Darüber denke ich so ziemlich jeden Tag nach! Und wissen Sie, warum? Weil ich jeden Tag, noch vor dem Aufstehen, Allah dafür danke, dass ich in einem relativ freien Teil der Welt leben darf. Ich bin als Flüchtling nach Kanada gekommen. Als meine Familie nach Kanada emigrierte, wurden uns Rechte verliehen, für die wir nicht kämpfen und kein Blut vergießen mussten. Nicht einmal streiten mussten wir, um sie zu bekommen! Man gab sie uns einfach, als Geschenk.

Und ich wiederhole die Frage, die mich seitdem bedrängt immer wieder (und zwar vor allem an die Muslime im Westen gerichtet): Was in Gottes Namen macht Ihr mit der Freiheit, die man Euch geschenkt hat? Warum sehen wir nicht, dass es unsere Pflicht ist — und nicht nur unser Recht — unsere Stimme zu erheben, um anderen zu helfen, irgendwann ihre eigene Stimme erheben zu dürfen.

Meine Mutter, eine traditionelle südasiatische Mutter, ruft mich jeden Tag an und beklagt ihre Angst, dass ich für meine liberalen Ansichten eines Tages körperlich angegriffen werden könnte. Ich versuche, ihre Sorgen zu zerstreuen, indem ich sie daran erinnere, dass ich vor der Freiheit, die wir in diesem Teil der Welt genießen, nicht einfach die Augen verschließen kann. Ich sage ihr, dass sie ihr Leben mit mir oder ohne mich leben könne, dass wir, die wir die Freiheit des Westens genießen, aber nicht mehr ohne diese leben könnten.

Zollen Sie denn der Gesellschaft, in der Sie leben, dafür Anerkennung, dass Sie als muslimische Frau diese Freiheiten genießen?

Manji: Unbedingt. In meinem Buch "Der Aufbruch: Plädoyer für einen aufgeklärten Islam" schildere ich bereits auf den ersten Seiten eine Begebenheit, die sich bei mir zuhause zugetragen hat, als mein Vater sehr gewalttätig war. Das hatte, nebenbei gesagt, nichts mit dem Islam zu tun, mein Vater war nur dem Namen nach ein Muslim.

Es lag vielmehr an der Kultur, in der er aufgewachsen war. Diese rechtfertigte nun einmal Gewalt gegen Frauen. Mit einem Messer in der Hand lief er durch das ganze Haus hinter mir her. Ich entkam aus dem Schlafzimmerfenster und flüchtete mich auf die Dachspitze, wo ich die ganze Nacht verbrachte.

​​Was daran so bemerkenswert war, ist nicht etwa, dass ich mich fürchterlich ängstigte, sondern vielmehr, dass ich quasi eine Erleuchtung hatte, wenn auch nicht im religiösen Sinne. Die ganze Nacht saß ich also auf dem Dach, ganz ruhig und still. Ich schaute auf die Nachbarschaft hinab und überlegte, wie glücklich ich im Grunde war. Ja, ich war glücklich, denn ich lebte in einer freien Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die sich beständig erneuert. Mir wurde klar, dass ich als Individuum eine wirklich freie Wahl hatte. Und das war eine Wahlmöglichkeit, die meine Mutter zum Beispiel nicht hatte, die letztendlich in einem ewigen Kreislauf der Gewalt feststeckte.

Was empfinden Sie dabei, wenn Sie feststellen, dass Sie von einer bestimmten Gruppe von Muslimen nicht akzeptiert werden?

Manji: Von bestimmten Kreisen der muslimischen Gemeinschaft werde ich als "nicht tragfähig" angesehen. Ich muss zugeben, dass ich darin eine Art Auszeichnung sehe. Jüngere Muslime, die nach Wegen suchen, sich selbst frei auszudrücken und denen es gelingt, ein Leben jenseits von Dogmen zu leben, geben mir die Kraft, auch selbst diesen Mut aufzubringen. Wenn die es können, dann schaffe ich es auch, sage ich mir. Es ist ein von Gott gegebenes Recht, für dich selbst zu denken.

Worin bestehen die größten Herausforderungen für die muslimische Frau im 21. Jahrhundert?

Manji: Frauen in der islamischen Welt haben durch die anstehenden Veränderungen am wenigsten zu verlieren und am meisten zu gewinnen. Es sind muslimische Frauen, die am meisten darunter leiden, nur Staatsbürger zweiter Klasse zu sein. Der Status quo sieht für uns keine Würde vor, und das gilt in gleichem Maße für die Kinder, die wir auf diese Welt bringen. Machen wir uns nichts vor: Wir kämpfen doch eigentlich gar nicht mehr für uns selbst, sondern viel mehr schon für unsere Kinder.

Worin besteht der Zusammenhang von Armut und Emanzipation muslimischer Frauen in Asien?

Irshad Manji: Die Armut zu bekämpfen, ist eine wichtige Voraussetzung, um zu einer größeren Unvoreingenommenheit der Muslime zu gelangen. Zu viele Menschen sind allein damit beschäftigt, ihre bloße Existenz zu sichern, so dass wir nicht von ihnen erwarten können, dass sie sich alten islamischen Traditionen wie dem "Idschtihad" (der Interpretation des Koran und der Sunna) widmen.

Auch durch das Konzept der Mikrokredite, das ja ursprünglich aus Südostasien stammt, konnte der Armut in Asien nicht Einhalt geboten werden. Und doch ist die Idee mächtig genug, dass die Grameen Bank aus Bangladesch selbst in einem entwickelten Land wie den USA eine Niederlassung eröffnen kann.

Sind Sie für die Einführung der Scharia in westliche Rechtssysteme? In Großbritannien gab es hierüber ja unlängst eine hitzige Debatte.

Rowan Williams; Foto: AP
Erzbischof Williams plädierte für eine Verankerung von Teilen der Scharia im britischen Rechtssystem.

​​Manji: Wenn ich mir vor Augen halte, wie die Scharia in einigen islamischen Gesellschaften in der Vergangenheit verkündet wurde und noch heute wird, bin ich absolut dagegen. Doch mache ich mich vehement dafür stark, dass Muslime nach dem wahren Geist des Islams leben. Das hat eben nicht unbedingt etwas mit der Scharia zu tun.

Vielmehr geht es darum, die Menschen zu ermutigen, auf die eigenen, säkularen Verfassungen zu vertrauen, denn diese geben jedem das Recht, sowohl zur Ausübung seines Glaubens als auch zur Interpretation dieser Religion - und das in einer Weise, die der jeweils eigenen Auffassung vom Leben entspricht. Wenn die Scharia wahrhaftig islamisch ausgerichtet sein will, darf sie nichts mit Zwang zu tun haben.

Interview: Qurratulain Zaman

© Qantara.de 2008

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Irshad Manji, Tochter einer Ägypterin und eines Inders, wurde 1969 in Uganda geboren und wuchs in Kanada auf. Seit ihrem Forschungsstipendium an der amerikanischen Yale-Universität arbeitet sie als Forscherin bei der "European Foundation for Democracy" in Brüssel.

Qantara.de

Irshad Manji: "Der Aufbruch"
Bruch oder Aufbruch?
Irshad Manji, eine in Kanada lebende Muslimin, ruft dazu auf, den Islam zu reformieren. In ihrem Buch "Der Aufbruch" bricht die bekannte Fernsehmoderatorin mit allen Tabus. Stefan Weidner hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Interview Margot Badran:
"Islamischer Feminismus ist ein weltweiter Diskurs"
Die Historikerin Margot Badran konzentriert sich als Spezialistin für Gender Studies auf den Nahen Osten und die islamische Welt. Im Interview mit Yoginder Sikand spricht sie über islamischen Feminismus und die Rolle der Frau im Islam.

Dossier:
Feministischer Islam
Sie berufen sich auf die Tradition: Musliminnen, die in ihrem Kampf um gesellschaftliche Emanzipation und ein modernes Rollenverständnis auf den Koran und die Geschichte des Islam zurückgreifen - auch wenn sie damit teilweise überlieferter Koraninterpretation widersprechen.

www

Homepage von Irshad Manji (engl.)