Wie geht Gleichberechtigung im Familienrecht?
Frau Mir-Hosseini, wie sind Sie an das Thema herangegangen? Wie unterscheidet sich "Journeys Toward Gender Equality in Islam“ von Ihren früheren Büchern?
Ziba Mir-Hosseini: Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine logische Fortsetzung meiner Forschungen zum islamischen Familienrecht seit den frühen 1980er Jahren. Zwischen 1984 und 1989 habe ich an Familiengerichten im Iran und in Marokko mit Schwerpunkt Eheschließungen und Scheidungen geforscht.
Es ging mir stets darum, zu verstehen, was es bedeutet, nach islamischem Recht verheiratet zu sein und sich scheiden zu lassen. Daher habe ich verfolgt, wie Konflikte vor Gericht ausgetragen wurden, und wie die Gerichte sie entschieden haben. Damals hatten in beiden Ländern nur Männer das Recht, sich scheiden zu lassen. Die meisten Kläger waren jedoch Frauen und so erfuhr ich einiges über ihre Beschwerden. Daraus entstand mein erstes Buch, Marriage on Trial, eine 1993 veröffentlichte vergleichende Studie über Scheidungen im Rechtssystem und in der Praxis im Iran und in Marokko.
Mich als Muslimin hat interessiert, warum und wie die islamische Rechtstradition so patriarchal wurde: Welche Vorstellungen, welche Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen liegen den dominierenden Auslegungen der Scharia zugrunde? So begann ich 1992 mit dem Studium islamischer Rechtstexte (Fiqh) und forschte anschließend in Ghom, einem der wichtigsten religiösen Zentren des Iran.
Bei meinen Gesprächen mit den Religionsgelehrten, den Ulama, wurde mir klar, wie wichtig es ist, mich mit der islamischen Rechtstradition auseinanderzusetzen, um aus der Tradition heraus für egalitäre Familiengesetze argumentieren zu können. Daraus entstand mein zweites Buch - Islam and Gender: The Religious Debate in Contemporary Iran.
Geschlechterrollen sind immer sozial konstruiert
Meine Forschungsarbeit in Qom hat meine Sichtweise verändert. Die Rechte der Geschlechter und die Stellung der Frau im Islam sind ein Konstrukt, das aus dem Zusammenspiel von ideologischen, politischen und sozioökonomischen Realitäten sowie den Erfahrungen und Erwartungen der Menschen entstanden sind. Sie sind nicht unveränderlich. Sie können verhandelt und verändert werden. Ich wollte die Debatten über die Geschlechterverhältnisse im Islam nicht länger nur beobachten, sondern mich an ihnen beteiligen und sie mitgestalten.
Wie ging es dann weiter?
Mir-Hosseini: Seit Anfang der 2000er Jahre forsche ich über muslimische Reformdenker und Frauenrechtlerinnen. Im Anschluss an Islam and Gender habe ich als Autorin an einem Buch mitgewirkt, das die Arbeit eines iranischen Geistlichen bekannt machte, der sich mit juristischen Argumenten klar für Demokratie und Geschlechtergleichheit aussprach.
Ich war Mitbegründerin von Musawah, einer Bewegung für Geschlechtergleichheit und Gerechtigkeit im islamischen Familienrecht. Wir haben einen ganzheitlichen Rahmen entwickelt, der islamische Lehrmeinungen, Menschenrechte, verfassungsrechtliche Garantien und gelebte Wirklichkeit zusammenbringt.
Musawah wurde im Februar 2009 ins Leben gerufen. Im Juni desselben Jahres entstand im Iran die Grüne Bewegung nach umstrittenen Präsidentschaftswahlen: Drei Millionen Menschen gingen in Teheran auf die Straße, vor allem Frauen und Jugendliche. Sie fragten: Wo ist meine Stimme?
Die Grüne Bewegung forderte die theokratischen Elemente in der Islamischen Republik heraus. Es war der erste große Massenprotest im Iran seit der Revolution von 1979.
Ich hatte schon länger vor, die Stimmen und Lehrmeinungen von Reformern in Form eines Dialogs festzuhalten, die ich bereits in Islam and Gender eingeführt hatte. Angesichts der Gründung von Musawah und der Entwicklungen im Iran war ich zuversichtlich, dass sich etwas ändern würde.
Ich wollte mit einigen führenden muslimischen Reformgelehrten über ihre Arbeit und ihre Auseinandersetzung mit islamischen Texten sprechen und darüber, wie ihre Herangehensweise mit ihrem eigenen Lebensweg zusammenhängt - mit anderen Worten, ich wollte den Kontext ihres Weges genauer beschreiben.
Ich wollte erforschen, wie vormoderne Auffassungen von Textquellen überzeugend infrage gestellt und ein egalitärer Zugang aus der muslimischen Tradition heraus geschaffen werden kann. Überdies wollte ich dieses Wissen einem breiteren Publikum zugänglich machen, insbesondere muslimischen Feministinnen und Frauenrechtlerinnen.
Wie sind Sie bei der Auswahl der Gelehrten für Ihre Interviews vorgegangen?
Mir-Hosseini: Ich kontaktierte mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ich persönlich kannte, um mit ihnen offene und kritische Gespräche zu führen. Insofern waren es eher Gespräche, in denen wir uns ausgetauscht haben, keine Interviews. Dabei sprach ich auch über meinen eigenen persönlichen und intellektuellen Weg und über die Gründerinnen von Musawah.
Nachdem ich über einen Zeitraum von fast zehn Jahren Gespräche mit zehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geführt und aufgezeichnet hatte, entschied ich mich für eine Auswahl von sechs Gesprächspartnern aus Ländern, deren Kontext ich kenne, nämlich Iran, Marokko und dem Westen. Auf die anderen Gespräche musste ich leider verzichten, auch wenn sie für mich persönlich sehr interessant und wichtig waren.
Meine Gesprächspartnerinnen und -partner in diesem Buch sind die bekannten Intellektuellen Abdullahi An-Na'im, Amina Wadud, Asma Lamrabet, Khaled Abou El Fadl, Mohsen Kadivar und Sedigheh Vasmaghi. Obgleich sich einige von ihnen nicht als Aktivistinnen (oder Feministinnen) bezeichnen, betrachte ich sie als solche, denn Aktivismus hat viele Gesichter.
"Muslimin und Feministin“ ist kein Widerspruch
Mit diesen Gesprächen wollte ich auch eine Verbindung zu dem herstellen, was in der Gesellschaft passiert. Es gibt viele wertvolle wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Gender im Islam, aber die akademischen Überlegungen haben selten einen Bezug zu den realen Problemen in der Gesellschaft. Deshalb haben wir darüber diskutiert, wie wir ein Verständnis des Islam schaffen können, das der heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung der Geschlechter und Gerechtigkeit Raum gibt.
In einem Interview sagten Sie, dass sich Ihre eigene Suche dem Ende nähert. Wenn Sie auf Ihren Werdegang zurückblicken, wie viel hat sich seither bei der Gleichberechtigung der Geschlechter verändert?
Mir-Hosseini: Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn in den 1980er Jahren konnte man nicht gleichzeitig Muslimin und Feministin sein – das war ein Widerspruch in sich. Das änderte sich ab den 1990er Jahren mit wissenschaftlichen Pionierarbeiten, die man sowohl als feministisch als auch als islamisch bezeichnen konnte. Hier wurde aus der islamischen Tradition heraus für die Gleichberechtigung der Geschlechter argumentiert.
Als Wissenschaftlerin sah ich mich damals eher in einer Beobachterposition. Ab den späten 1990er und frühen 2000er Jahren wurde islamischer Feminismus nicht mehr als Widerspruch gesehen.
Inzwischen gibt es zahlreiche wissenschaftliche Bücher zu diesem Thema. An vielen Hochschulen werden Lehrveranstaltungen angeboten. Viele Menschen beschäftigen sich damit. Insofern hat sich vieles verändert. Auch die Gründung einer Organisation wie Musawah, die Aktivismus und Wissenschaft zusammenbringt, um einen feministischen und egalitären Zugang aus der islamischen Tradition heraus zu schaffen, war wichtig. Ich bin froh, Teil dieser Veränderung zu sein.
Sie sagten, dass zwei Ereignisse wichtige Impulse für das Buch gegeben haben: die Gründung von Musawah und der Beginn der Grünen Bewegung im Iran. Wie sehen Sie die jüngsten Proteste im Iran im Zusammenhang mit Ihrem Buch?
Mir-Hosseini: Mein eigenes feministisches Bewusstsein habe ich als Bürgerin der Islamischen Republik entwickelt. Zwei Kapitel meines Buches geben Gespräche mit zwei herausragenden Personen der iranischen Reformbewegung wieder: Mohsen Kadivar und Sedigheh Vasmaghi. Die Gespräche geben Einblick in die Ursachen der jüngsten Aufstände unter dem Motto "Frauen, Leben, Freiheit". Vasmaghi musste den Iran nach dem Aufkommen der Grünen Bewegung verlassen, kehrte aber 2019 zurück. In einem für sie typischen, mutigen Schritt kritisierte sie jüngst offen die staatliche Hidschāb-Pflicht und forderte Ayatollah Ali Khamenei als religiöses und staatliches Oberhaupt der Iranischen Republik auf, eine theologische Begründung dafür zu liefern.
Paradoxerweise hat die Instrumentalisierung der Scharia als einer Quelle zur Legitimation der Islamischen Republik nicht nur den politischen Hintergrund von Theologie und Recht offengelegt, sondern auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit in der Scharia in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt.
Warum?
Auf der einen Seite haben islamistische Bewegungen verschiedener Prägung das etablierte patriarchale Rechtsverständnis der Scharia auf die Spitze getrieben, um muslimischen Frauen die persönlichen, bürgerlichen und politischen Rechte vorzuenthalten, die sie sich in anderen Teilen der Welt erkämpft haben. Auf der anderen Seite haben neue Formen der reformorientierten Lehre und des politischen Aktivismus traditionelle islamische Auffassungen infrage gestellt, darunter auch Musawah und die Arbeit meiner Gesprächspartner.
"Frauen, Leben, Freiheit!“
Der gewaltsame Tod von Jina Mahsa Amini im September löste die seit Jahrzehnten größte Protestbewegung gegen die repressive Herrschaft in der Islamischen Republik aus. Der iranische Staat reagierte darauf mit großer Härte.
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Unter dem Motto "Frauen, Leben und Freiheit“ erleben wir die Manifestation der tiefgreifensden kulturellen Revolution seit Gründung der Islamischen Republik. Die Grüne Bewegung im Jahr 2009 war vor allem ein Protest der städtischen Mittelschicht und der Intellektuellen. In den Jahren 2016 und 2018 kam es zu größeren Protesten der Arbeiterschaft. Immer wieder gab es auch Aufstände ethnischer Minderheiten, insbesondere der Kurden und Belutschen.
Diesmal haben sich alle zusammengeschlossen, um dem Regime die Stirn zu bieten. Diese Bewegung richtet sich nicht gegen die Religion an sich, sondern gegen einen autoritären und übergriffigen Staat und gegen eine aufgezwungene Auslegung des Islam, die die Menschen in allen Lebensbereichen einschränkt. Die junge Generation ist nicht mehr bereit, diese Einschränkungen hinzunehmen. Ihr gehört die Zukunft.
Das Interview führte Tugrul von Mende
© Qantara.de 2023
"Journeys towards Gender Equality in Islam“, von Ziba Mir-Hosseini, erschienen bei Simon & Schuster (2022)
Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Lammers