Neue Heimat - verlorene Heimat

Avital Ben Chorin wurde in Eisenach geboren. Sie hat in Israel eine neue Heimat gefunden. Die Beduinen-Familie Abu Sitta dagegen hat mit der Gründung Israels ihre Heimat verloren. Bettina Marx über die verschiedenartige Bedeutung des Gründungsjahres.

Avital Ben Chorin; Foto: Bettina Marx/DW
Avital Ben Chorin: "Wir waren begeistert, am Aufbau des Landes teilhaben zu dürfen!"

​​ Avital Ben Chorin ist 85 Jahre alt. Eine elegante Dame mit pechschwarzem Haar und silbernen Ringen an den schlanken Fingern. Als Erika Fackenheim wurde sie im Jahr 1923 in Eisenach geboren. Mit zehn Jahren begann sie sich für das Judentum und den Zionismus zu interessieren.

Im Jahr 1936, drei Jahre nach der Machtergreifung der Nazis entschloss sie sich, Deutschland zu verlassen.

Neue Heimat

Im Alter von 13 Jahren wanderte sie mit einer Jugendgruppe und ohne ihre Eltern nach Palästina aus. Sie fand Unterkunft in einem Kinder- und Jugendheim für junge deutsche Juden in dem von deutschen Einwanderern gegründeten Ort Kirjat Bialik bei Haifa.

"Wir waren begeistert, am Aufbau des Landes teilhaben zu dürfen", erzählt sie heute, mehr als 70 Jahre nach ihrer Einwanderung.

Stadtpanorama Jerusalem; Foto: AP
Die UN hatten am 29. November 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen, Jerusalem sollte internationalisiert werden.

​​Mit 17 Jahren musste sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie zog erst nach Ramat Gan, dann nach Jerusalem. Dort lernte sie – bei einem Vortrag des berühmten deutsch-jüdischen Theologen Martin Buber – ihren Mann kennen, den aus München stammenden Religionsphilosophen Shalom Ben Chorin.

Zusammen mit ihm erlebte sie im November 1947 den Teilungsbeschluss der UNO, mit dem das britische Mandatsgebiet westlich des Jordan aufgeteilt wurde, für zwei zukünftige Staaten, einen jüdischen und einen palästinensischen.

Als im Mai 1948 Israels erster Ministerpräsident David Ben Gurion den Staat Israel ausrief, war Jerusalem schon von arabischen Truppen belagert.

Dennoch wurde die Kunde vom eigenen Staat mit Jubel aufgenommen, erinnert sich Chorin. "Wir wussten damals, dass unser Staat furchtbar klein sein würde, aber dennoch haben wir uns gefreut. Denn endlich hatten wir einen Staat."

Die palästinensische Katastrophe

Für die Palästinenser jedoch bedeutete dieser Tag, der 14. Mai 1948, den Beginn ihrer Vertreibung. Der israelische Unabhängigkeitstag ist für sie der Tag der "Nakba" der Katastrophe.

Einer, dessen Familie damals ihre Heimat verlor, ist Fawaz Abu Sitta, der heute in Gaza lebt. Er stammt aus einem Beduinenstamm, dessen Wohnsitz im Gebiet um die Stadt Beer Sheva lag. Schon 400 Jahre lang war der Stamm in der Negev-Wüste sesshaft.

Fawaz Abu Sitta; Foto: Bettina Marx /DW
Für seine Familie bedeutete der 14. Mai 1948 den Beginn der Vertreibung seiner Familie: Fawaz Abu Sitta

​​Er verfügte über ausgedehnte Ländereien an der Grenze zum Gazastreifen, wo die Großfamilie Ackerbau und Viehzucht betrieb. "Mein Großvater legte großen Wert auf Bildung", erzählt Fawaz. "Er gründete eine Schule für die Jungen unseres Stammes."

So konnten Fawaz' Vater und dessen Brüder erst die Schule und dann die Universität besuchen. Als der Stamm im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 seine Ländereien und damit seine Lebensgrundlage verlor, konnten die gebildeten Brüder die inzwischen landlose Familie mit ihren akademischen Berufen über Wasser halten.

Verlorene Heimat

Der gesamte Stamm, mehr als 400 Mitglieder, wurde damals aus seinem Siedlungsgebiet vertrieben. Die Abu Sittas flohen in den benachbarten Gazastreifen, wo sie sich in den Flüchtlingslagern in Khan Yunis, Deir el Balach und Rafach niederließen. Hier lebten sie, praktisch in Sichtweite ihrer alten Heimat.

Fawaz wurde im Jahr 1953 in Khan Yunis geboren. Er wuchs auf in dem Bewusstsein, ein Flüchtling zu sein, der eines Tages in sein altes Stammesgebiet zurückkehren wird. Er wohnte zwar in Khan Yunis und ging dort zur Schule. Seine richtige Heimat jedoch lag jenseits des Stacheldrahts, im Staat Israel.

"Mein Großvater nahm mich immer wieder mit und zeigte mir aus der Ferne unser Land. Und er versprach mir, dass ich ein großes Stück davon bekommen sollte", sagt Fawaz. Doch die Familie kehrte nicht zurück. Ein Teil blieb in Gaza, der Rest zerstreute sich in aller Herren Länder.

Fawaz ging nach Deutschland. In der damaligen DDR lernte er Deutsch, studierte Wirtschaftswissenschaften und lernte sein Frau Anke kennen. Seine Brüder gingen in die USA, nach Kanada und Saudi-Arabien.

Inzwischen hat Fawaz, der Professor an der Azhar-Universität im Gazastreifen ist, die Hoffnung auf Rückkehr in das alte Stammesgebiet aufgegeben. Er plädiert für einen palästinensischen Staat in den 1967 besetzten Restgebieten des alten Palästina, im Gazastreifen und dem Westjordanland.

"Aber", so betont er, "ich gehöre mit dieser Haltung einer Minderheit an." Die große Mehrheit der Palästinenser wolle auf ihren Traum von der Rückkehr in die alte Heimat oder doch wenigstens von einer gerechten Lösung der Flüchtlingsfrage nicht verzichten.

Bettina Marx

© DEUTSCHE WELLE 2008

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