"Die jungen Araber glauben nicht mehr an Ideologien"

Nach Tunesien und Ägypten erlebt nun Libyen eine Welle des Protests. Während das Regime ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Aufstände vorgeht, weiten diese sich auf immer mehr Städte aus. Emad Ghanim sprach darüber mit dem Politikwissenschaftler Rachid Ouaissa.

Proteste gegen Gaddafi; Foto: dapd
"Für mich erklärt sich der aktuelle Volksaufstand nur dadurch, dass der psychologische Effekt der Aufstände und Revolten in Tunesien und Ägypten doch größer ist als zuvor angenommen", sagt Rachid Ouaissa.

​​ Nach den Protesten in Tunesien und Ägypten ist jetzt der Funke der Revolte auf Libyen übergesprungen. Überrascht Sie das?

Rachid Ouaissa: Das überrascht mich schon ein bisschen, weil in Libyen nicht ein vergleichbarer Frustrationspegel wie in anderen arabischen Ländern herrscht. Libyen ist eines der reichsten Länder der arabischen Welt und beherbergt eine vergleichsweise geringe Bevölkerung. Für mich erklärt sich der aktuelle Volksaufstand nur dadurch, dass der psychologische Effekt der Aufstände und Revolten in Tunesien und Ägypten doch größer ist als zuvor angenommen.

Das libysche Regime galt bislang als stabil. Wie hat es Gaddafi geschafft, seine Herrschaft 42 Jahre lang zu sichern? Haben Sie eine Erklärung für diese außergewöhnliche Stabilität?

Ouaissa: Das libysche Regime genießt eine große "Rente", das heißt, es besitzt große Geldmengen unter anderem aus dem Verkauf von Öl und Gas bei einer vergleichsweise kleinen Bevölkerungszahl. Hinzu kommt, dass der Kolonialismus in Libyen Spuren hinterlassen hat. Nach dieser Zeit kam ein Militärmann wie Muammar al-Gaddafi, der sehr früh im Alter von 27 Jahren die Macht übernahm. Er bildete eine ideologische Kuvertüre, einen ideologischen Überbau für Libyen. Dabei bediente er sich nicht nur beim Sozialismus und dem arabischen Nationalismus, sondern er beschritt einen Sonderweg: Er sprach von "Dschamahiriyya", von einem Volksmassenstaat. Mit seinem "Grünen Buch" der Republik versuchte er, das gesamte Volk zu indoktrinieren.

Aber anders als in Ägypten oder Tunesien spielte in Libyen Geld und Arbeitslosigkeit doch kaum eine Rolle…

Ouaissa: In der Tat: Man kennt es von libyschen Studenten im Ausland, für sie war Geld nie ein Problem. Im Gegenteil: Libyen ist ein Land, das immer Gastarbeiter aus anderen arabischen Ländern geholt hat. Das Geld reichte aus, um die gesamte Bevölkerung zu erkaufen und in einem Klientelsystem an sich zu binden.

Saif al-Islam al-Gaddafi; Foto: AP/Libyan State Television
In einer TV-Ansprache drohte Gaddafis Sohn Saif al-Islam mit einem Kampf bis zum letzten Mann und warnte vor einem Bürgerkrieg. Gleichzeitig versprach er Reformen.

​​ Jetzt haben wir es aber offenbar mit einer neuen Generation zu tun, ähnlich wie in den anderen arabischen Ländern. Eine Generation, die sich damit zufrieden gibt, mit den Geldern des Staates ruhiggestellt zu werden. Diese neue Generation, die zu Recht als "Facebook-Generation" bezeichnet wird, ist weltoffener. Daher darf man diese Aufstände nicht einfach als "Brot-Aufstände" banalisieren.

Diese jungen Menschen sind nicht aufgestanden, weil sie Hunger haben oder weil sie in die Arbeitslosigkeit geraten sind, es ist mehr als das: Sie wollen atmen, sie wollen in Würde leben. Sie wollen nicht mehr unter diesen Diktaturen leben. Das ist der eigentliche Grund für die Revolte. Ich glaube, wenn man nur davon spricht, dass sie aufgestanden sind, weil sie Probleme und keine Aussichten auf einen Job haben, banalisiert man das Problem. Ich will damit sagen: Der Mensch besteht nicht nur aus einem Magen. Man will uns in der arabischen Welt unterstellen: "Die rebellieren nur, wenn sie Hunger haben". Das stimmt nicht. Gerade der Fall Tunesien, wo wir wirklich eine gute Mittelschicht haben, der es wirtschaftlich nicht so schlecht geht, hat das gezeigt. Auch jetzt am Fall Libyen und auch in Bahrain wird klar, es ist nicht nur der Hunger. Die jungen Menschen wollen in Freiheit leben, sie wollen nicht mehr unter den Regimes und unter diesen Umständen leben.

Welche Rolle spielen soziale Netzwerke wie z.B. Facebook und Twitter bei einer möglichen Revolte in Libyen?

Demonstranten in Bengasi; Foto: AP
Demonstrationen in Bengasi: "Diese jungen Menschen sind nicht aufgestanden, weil sie Hunger haben oder weil sie in die Arbeitslosigkeit geraten sind, es ist mehr als das: Sie wollen atmen, sie wollen in Würde leben", sagt Ouaissa.

​​ Ouaissa: Wir haben leider wenige zuverlässige statistische Informationen über die Internetnutzung in Libyen. Ich glaube jedoch, dass es sich um eine neue Generation handelt, die nicht mehr von der Propaganda des Regimes und vom "Grünen Buch" der Revolution überzeugt ist. Insofern spielen neue Kommunikationsmittel wie soziale Netzwerke im Internet oder Handys eine große Rolle innerhalb dieser jungen Generation. In Libyen wie auch in anderen Ländern der arabischen Welt besteht die Bevölkerung zu mehr als 60% aus Jugendlichen. Es ist eine Krankheit in der gesamten arabischen Welt: Wir haben politische Führer, die mehrheitlich älter als 60 Jahre sind und dem steht eine sehr junge Bevölkerung gegenüber, das ist ein Paradox.

Es ist ein Generationsproblem, dass die Herrschenden denken, wir haben es mit einer Zeit der Ideologisierung zu tun. Die jungen Menschen glauben nicht mehr an Ideologien, sei es nun der Islamismus oder der arabische Nationalismus. Man glaubt nicht mehr an das ganze Gerede.

Welche Beziehungen gibt es zwischen der Armee und dem Regime, kann man Libyen und Tunesien miteinander vergleichen? Zu wem wird das Militär bei einer möglichen Revolte halten?

Rachid Ouaissa; Foto: www.uni-marburg.de/cnms
"Es ist eine Krankheit in der gesamten arabischen Welt: Wir haben politische Führer, die mehrheitlich älter als 60 Jahre sind. Dem steht eine sehr junge Bevölkerung gegenüber, das ist ein Paradox", meint Ouaissa.

​​Ouaissa: Im Falle Libyen ist das schwierig, weil das System völlig anders aufgebaut ist. Es ist alles an den Revolutionsführer gebunden und ähnelt ein wenig dem ägyptischen System. In Tunesien war es relativ leicht, diese kleine, korrupte Elite zu entwaffnen, weil die Armee in der Geschichte des Landes nie eine wichtige Rolle spielte. Es war nur die korrupte Familie Trabelsi und zwanzig weitere, die das Land in der Hand hatten.

In Ägypten aber spielte die Armee seit der Republikgründung eine Rolle. Die Armee bildet seit dem Aufstieg Gamal Abdel Nassers 1962 eine Hauptsäule des Regimes. Das Gleiche gilt für Libyen, das auch ein revolutionäres Regime wie Ägypten hat. Gaddafi kam durch einen Putsch an die Macht, ähnlich wie in Algerien und in Syrien. Das sind revolutionäre Regime, wo die Armee die Hauptsäule des Regimes darstellt, deswegen ist ein Übergang hier nicht so einfach zu gestalten wie im tunesischen Fall.

Interview: Emad Ghanim

© Qantara.de 2011

Rachid Ouaissa ist Professor an der Philipps-Universität Marburg und Leiter des Centrums für Nah- und Mittelost-Studien, Fachgebiet Politik des Nahen und Mittleren Ostens.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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