Genug ist genug!
Ägypten erlebt eine Welle des Protests, die für die Republik am Nil neu ist: Während Mubaraks 30-jähriger autoritärer Herrschaft hat das Land noch nie solche massiven Unruhen erlebt. Die Botschaft der Ägypter ist klar: "Kefaya!" – "Es ist genug!" Aus Kairo informiert Amira El Ahl.
Am frühen Donnerstagmorgen nimmt das Leben in Kairo wieder seinen normalen Gang. Die Menschen gehen zur Arbeit, Geschäfte und Banken sind geöffnet, der Verkehr läuft. Von den Ausschreitungen der vergangenen zwei Tage ist kaum etwas zu spüren, nur die vielen Glasscherben im Zentrum von Kairo lassen ahnen, was hier vor sich gegangen ist.
In der Nacht von Mittwoch (26.1.) auf Donnerstag waren wieder Tausende in Kairo auf die Straße gegangen, um gegen das Regime von Präsident Hosni Mubarak zu demonstrieren. Im Zentrum der Stadt zwischen Nil und Ägyptischem Nationalmuseum kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Sicherheitskräfte versuchten mit Wasserwerfern und Tränengas die Menschen zurückzudrängen, die wiederum die Polizei mit Steinen attackierten.
Für ein demokratisches Ägypten
Am Dienstag (25.1.) – dem "nationalen Tag der Polizei" – hatten Aktivisten über Facebook zu landesweiten Protesten aufgerufen. Über 90.000 Mitglieder zählte die Seite in kürzester Zeit. Inspiriert und ermutigt durch die erfolgreichen Proteste in Tunesien, wollten sie gegen die Missstände im Land auf die Straße gehen.
Doch dass 15.000 Menschen – die Organisatoren selber sprechen von 30.000 Personen – zusammenkamen, um für ein neues und demokratisches Ägypten zu demonstrieren, hätte wohl niemand von ihnen zu träumen gewagt.
Im ganzen Land gingen Menschen auf die Straße – in Alexandria, Suez, auf dem Sinai und im Nil-Delta. Junge, Alte, Intellektuelle, Studenten und Arbeiter, auch Familien mit Kindern waren unter den Demonstranten. Sechs Menschen sind bei den Protesten bisher ums Leben gekommen, Hunderte wurden verletzt, etwa 1.000 Demonstranten sind nach Angaben von Sicherheitskräften festgenommen worden.
Die Menschen in Ägypten wollen den politischen Wandel, der in ihren Augen längst überfällig ist. Und sie haben durch das Beispiel Tunesien erkannt, dass dieser Wandel nur durch den Gang auf die Straße erreicht werden kann.
Sie wollen ein Ende der fast 30-jährigen Notstandsgesetze, sie fordern eine Erhöhung des Mindestlohns sowie Preissenkungen für Grundnahrungsmittel. Und sie haben genug von einer Machtelite, deren Wirtschaftreformen nur ihnen selbst Vorteil verschafft, durch die jedoch der einfache Ägypter auf der Strecke bleibt.
Der meist gehasste Minister Ägyptens
Doch vor allem sehnen sie sich nach einem Machtwechsel am Nil. Die Demonstranten skandierten "Nieder mit Mubarak!", doch viel wichtiger scheint den meisten ein Ende der Regierung und deren Minister zu sein, die sich nach Meinung vieler auf Kosten der Bevölkerung bereichert haben.
"Ich habe nichts gegen Mubarak", sagt Ramez, "ich mag ihn sogar." Der 28-Jährige arbeitet in einer Buchhandlung in der Nähe des Tahrir-Platzes, wo er am vergangenen Dienstagabend mit tausenden Gleichaltrigen protestiert hat. "Doch die Regierung muss gehen, allen voran Habib al-Adli."
Der Innenminister ist der wohl meist gehasste Politiker des Landes, er wird für das Attentat in Alexandria am Neujahrstag verantwortlich gemacht und für die Politik der harten Hand gegen jeden, der als Feind des Staates ausgemacht wird. Folter und Menschenrechtsverletzungen sind in Polizeistationen und Gefängnissen gang und gäbe. Am Mittwoch riefen die Demonstranten immer wieder: "Verzieh Dich, Folterminister!"
Bemerkenswert an den Protesten ist, wie selbstbewusst und unerschrocken sich die Demonstranten den zehntausenden Polizisten entgegenstellen. Selbst Wasserwerfer und Tränengas können sie nicht auseinanderbringen.
"Die Menschen in Ägypten sind zum ersten Mal bereit, wirklich auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren", wird Mohamed El-Baradei, ehemaliger Chef der Internationalen Atomenergiebehörde und Leiter der "Bewegung für den Wandel", in der Oppositionszeitung Masry Al-Youm zitiert. Die Kultur der Angst, die das Regime jahrzehntelang kultiviert hat, ist gebrochen. Nun gebe es kein Zurück mehr.
Der blockierte Hoffnungsträger der Opposition
Der Hoffnungsträger der Oppositionsbewegung in Ägypten war in den vergangenen Tagen in die Kritik geraten, weil er zwar über Twitter und Facebook die Demonstrationen unterstützte, sich aber nicht selbst beteiligte und stattdessen im Ausland weilte.
In einem Interview mit CNN sagte El-Baradei zu den Vorwürfen, dass es ihm bislang unmöglich gewesen sei, von Ägypten aus mit internationalen Medien zu sprechen und sich so für die Sache der Ägypter einzusetzen. "Ich werde in Ägypten völlig blockiert."
Auf der Facebook-Fanseite "El-Baradei for President" haben sich mittlerweile 200.000 Ägypter eingetragen. Der ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiebehörde war am Donnerstagabend von Wien nach Kairo zurückgekehrt. Ein wichtiger Impuls für die Protestbewegung in Ägypten, denn sie steht derzeit noch ohne ein klares politisches Konzept da – ganz ähnlich wie die Proteste in Tunesien, die zum Sturz Ben Alis führten. El-Baradei könnte der Bewegung ein politisches Profil geben und damit mehr Signifikanz.
Schon an diesem Freitag wird sich zeigen, wohin die Reise geht. Die Organisatoren der Proteste haben zu landesweiten Protesten nach dem Freitagsgebet in Moscheen und Kirchen aufgerufen. "Wir werden auf die Straße gehen, um das Recht auf Leben, Würde und Freiheit einzufordern. Und wir rufen jeden auf, sich uns anzuschließen, und weiterzumachen, bis die Forderungen des ägyptischen Volks umgesetzt sind", so die Ankündigung der Aktivisten der "6. April-Bewegung" auf Facebook.
Innenminister Habib Al-Adly hatte erklärt, keine weiteren Demonstrationen zuzulassen und hart gegen jeden vorzugehen, der dagegen verstößt. Wenn am Freitagmittag hunderttausende Gläubige auf die Straße strömen, um gegen die Regierung Mubarak zu protestieren, wird sich weisen, welche Maßnahmen das Regime bereit ist zu ergreifen, um ihre Macht zu sichern.
Amira El Ahl
© Qantara.de 2011
Amira El Ahl berichtete zwei Jahre lang als Auslandskorrespondentin für den SPIEGEL aus Kairo. Seit 2008 ist sie als freie Korrespondentin im Nahen Osten tätig.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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