Blutige Wende
Gut sechs Jahre nach der Invasion US-amerikanischer und britischer Truppen suchen die Iraker nach dem Wort, was die Zeit danach beschreibt. Manche nennen sie "Post-Saddam-Ära", um die Verbindung zum ehemaligen Diktator herzustellen.
Als Vergleich wird dann Stabilität und Sicherheit angeführt, die während des Saddam-Regimes herrschte und denen viele noch nachtrauern. Andere sprechen von der Zeit nach der Befreiung und haben dabei das Bild vor Augen, als die Bronzestatue Saddam Husseins vom Sockel gestoßen und der Sturz symbolisch vollzogen wurde.
Der Begriff will auch Sympathie für diejenigen ausdrücken, die das Ende der Diktatur bewirkt haben. Wieder andere sprechen von der Zeit der Besatzung und meinen damit die Anwesenheit ausländischer Truppen, die den Irakern Terror und Souveränitätsverlust gebracht hätte.
An den Universitäten und in den Medien setzt sich dagegen immer mehr der Begriff Wende durch, ein neutrales Wort, das jegliche Wertung vermeidet. Mohsen Abdul Amir von der Mustansarija-Universität in Bagdad hält das Wort Wende als am besten geeignet für das, was im Irak derzeit geschieht:
"Wir diskutieren mit den Studenten die unterschiedlichen Sichtweisen, wollen sie dadurch zu mehr Distanz gegenüber den Veränderungen in unserem Land sensibilisieren", sagt der Professor. Und Veränderungen gibt es wahrlich genug im Zweistromland: Es vollzieht sich ein Regime-Wechsel, der blutiger nicht sein könnte.
Erinnerung an die Anschläge vom August
Und das Morden geht weiter, auch wenn die Anschläge in den letzten zwölf Monaten abgenommen haben und der Irak aufgrund der Verschlechterung der Lage in Afghanistan, etwas aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit herausgetreten ist.
US-Präsident Barack Obama betrachtet das militärische Engagement an Euphrat und Tigris "nicht als seinen Krieg" und will es möglichst schnell beenden. Gleichwohl sind am vergangenen Sonntagvormittag (25.10.) zwei Autobomben nahe der "Grünen Zone" in Bagdad explodiert, mit verheerenden Folgen.
Laut Regierungsangaben fanden dabei 136 Menschen den Tod, 500 Menschen wurden verletzt. Es war der folgenreichste Anschlag seit dem Rückzug der US-Truppen aus den irakischen Städten Ende Juni und einer der verlustreichsten seit 2007.
Das Szenario vom Sonntag glich haargenau dem vom 19. August, als vor dem Außenministerium und dem Finanzministerium ebenfalls zwei Autobomben kurze Zeit hintereinander gezündet wurden und über 100 Menschen mit in den Tod rissen.
Dieses Mal waren das Justizministerium und die Bagdader Stadtverwaltung das Ziel der Terroristen. Die Botschaft hinter den Anschlägen ist klar. Sie wollen zeigen, dass die irakische Regierung nicht mal sich selbst schützen, geschweige denn für den Schutz der Bevölkerung sorgen kann.
Die Regierung war auch am Sonntag – wie bereits im August – schnell dabei, die Schuldigen zu benennen. Regierungssprecher Ali al-Dabagh, der sich zufällig in einem Hotel in der Nähe der Explosionen aufhielt, machte Al Qaida dafür verantwortlich, gepaart mit Mitgliedern der Baath-Partei und Saddam-Loyalisten. Offiziell gibt es aber noch kein Bekennerschreiben.
Im August wurde zuerst die Baath-Partei für die Anschläge beschuldigt, bevor Al Qaida sich schließlich auf einer Webseite dazu bekannte. Erst kürzlich hat die Regierung in Bagdad durchgesetzt, allen voran Außenminister Hoshiar Zebari, dass der Hintergrund der Anschläge auf sein Ministerium und das seines Finanzkollegen Gegenstand einer Untersuchung der Uno werden soll. Nun wird die Uno ihre Mission wohl entsprechend ausweiten müssen.
Gespanntes syrisch-irakisches Verhältnis
Zebari fordert von Syrien, die dort abgetauchte Spitze der Baath-Partei unverzüglich an den Irak auszuliefern, was Damaskus jedoch strikt ablehnt. Die nur einen Tag vor den verheerenden Autobomben am 19. August getroffene Vereinbarung beider Länder, künftig intensiver zusammenarbeiten zu wollen, ist seitdem auf Eis gelegt.
Die Verstimmung zwischen Bagdad und Syrien ist mehr als nur eine diplomatische Krise. Auch der Vermittlungsversuch der Türkei bei der regionalen Innenministerkonferenz Mitte Oktober im ägyptischen Scharm el Sheikh konnte daran nichts ändern. Ohnehin wird Syrien seit langem auch von der US-Regierung beschuldigt, den Terror im Irak zu unterstützen und zu fördern, was die Regierung Assad stets zurückgewiesen hat.
Inzwischen hat Al Qaida auch in ihren ehemaligen Hochburgen, den Provinzen Anbar und Dijala mit Selbstmordaktionen in Falludscha, Ramadi und Bakuba dafür gesorgt, ihre Präsenz im Irak erneut zu demonstrieren und zu zeigen: "Wir sind noch da!"
Das überrascht umso mehr, als die beiden vom Terror gezeichneten Provinzen noch vor wenigen Monaten als befriedet galten und den Rückzug der US-Truppen aus den irakischen Städten Ende Juni mit rechtfertigten.
Der von General David Petraeus im Februar 2007 ins Leben gerufene "Surge", dem Sicherheitsplan für Bagdad und den angrenzenden Provinzen, beinhaltete auch eine Allianz zwischen den Amerikanern und den sunnitischen Stammesführern im Kampf gegen Al Qaida.
Die so genannten Sahwa-Kämpfer, Stammesmilizen, arbeiteten eng mit den irakischen Sicherheitskräften und den US-Soldaten zusammen und schafften es nach eigenen Angaben, die internationalen Terroristen vom Schlage Al Qaidas aus den Provinzen zu vertreiben und ihnen die Basis zu entziehen.
Durch den Rückzug der US-Soldaten aus den Städten, ist die Verantwortung für das Bündnis mit den Stämmen nun in die Hand der irakischen Regierung gelegt worden.
Mangelnde Integration der Stammesmilizen
Der Wunsch der US-Amerikaner war es, dass die Stammesmilizen in die Sicherheitskräfte integriert werden sollen. Tatsächlich aber haben bis heute nur etwa 15 Prozent der Stammeskämpfer einen Platz in der Armee oder Polizei gefunden.
Die anderen sind seit Monaten ohne Bezahlung. Das schafft Unmut. Die Regierung hat dies nun erkannt und versprochen, in Kürze die ausstehenden Gehälter zu bezahlen und mehr Sahwa-Kämpfer in die regulären Sicherheitskräfte zu integrieren.
Da ein Großteil der zumeist sunnitischen Milizionäre anfangs zum irakischen Widerstand gegen die Besatzer zählten und sowohl Kontakte zu Saddam-Loyalisten als auch zu Al Qaida unterhielten, ist die Gefahr groß, dass sie jederzeit wieder die Fronten wechseln und dies auch als Druckmittel gegen die schiitisch dominierte Regierung nutzen.
Doch diese ist derzeit mit sich selbst beschäftigt. Im Vorfeld der am 16. Januar stattfindenden Parlamentswahlen, formiert sich die Parteienlandschaft Iraks derzeit neu. Während im Wahljahr 2005 ethnische und religiöse Gruppierungen und Allianzen dominierten, schwimmt der Irak jetzt auf einer Welle der Säkularisierung und des Patriotismus.
Das macht sich auch im Straßenbild von Bagdad bemerkbar. Immer mehr Frauen lassen ihre Kopfbedeckung zu Hause im Schrank. Eng anliegende T-Shirts und Röcke sind "in", islamische Kleidung ist "out". Sogar Miniröcke sind keine Seltenheit mehr. Die Zadoun-Straße am Ostufer des Tigris hat sich zur Alkoholmeile entwickelt. Bis spät in die Nacht sind die Läden geöffnet, die sich hell erleuchtet aneinander reihen.
Noch vor einem Jahr war die Straße völlig ausgestorben, nachdem radikale Islamisten – Sunniten wie Schiiten – fast täglich Autobomben vor den Geschäften zündeten. Alkohol ist islamischen Fundamentalisten ein Dorn im Auge.
Abspaltung von der Schiitenallianz
Premierminister Nuri al-Maliki hat als erster die Zeichen der Zeit erkannt und schon bei den Provinzwahlen im Januar sich betont säkular gegeben. Mit Erfolg. Seine Liste gewann die Mehrheit der Stimmen und ist in fast allen Provinzparlamenten vertreten.
Die kürzlich vollzogene Abspaltung von der bis dahin mächtigen, religiös-dominierten Schiitenallianz war deshalb erwartet worden. Im staatlichen Fernsehsender "Al Iraqia" verkündete der Regierungschef Ende September sein künftiges Wahlbündnis mit dem vielversprechenden Namen "Rechtsstaat" als "eine historische Wende im Aufbauprozess des modernen irakischen Staates".
Ziel des Bündnisses sei auf nationalen Fundamenten Integrität und Professionalität fern des Konfessionsproporzes zu erreichen – eine klare Absage an seine vormaligen Verbündeten, allen voran dem Hohen Islamischen Rat (SIIC).
Sein Bündnis, so Maliki weiter, solle alle Iraker repräsentieren, die sich nicht von "engstirnigen Interessen einzelner Ethnien oder Konfessionen leiten lassen". Er stünde bereit, jeden Versuch des erneuten Schürens des Konfessionszwistes im Keime zu ersticken und dem daraus resultierenden Terrorismus entschlossen entgegen zu treten.
Mittlerweile umfasst "Rechtsstaat" neben Malikis schiitischer "Dawa"-Partei weitere 30 politische Gruppierungen und wächst ständig an. Die kommunistische Partei Iraks hat sich ebenso angeschlossen, wie sunnitische Stammesführer, die irakisch-arabische Vereinigung, die "Turkmenische Islamische Union" oder der "Block der Feily-Kurden", um nur einige zu nennen.
Politische Beobachter in Bagdad erwarten nun einen Machtkampf zwischen "Rechtsstaat" und der ebenfalls neu gebildeten "Irakischen Nationalen Allianz" (INA), die im Prinzip die alten Parteien der früheren Schiitenallianz, mit Ausnahme von Malikis "Dawa"-Partei, umfasst, angereichert durch einige sunnitische "Galionsfiguren", wie Kritiker spötteln.
Tauziehen um neues Wahlgesetz
Erstes Anzeichen dieses Machtkampfes ist das Tauziehen um das neue Wahlgesetz, das seit Wochen heftige Kontroversen hervorruft. Demnach soll die Anzahl der Parlamentarier von 275 auf 311 erhöht werden, da jede Provinz künftig einen einheitlichen Wahlkreis bilden und entsprechend ihrer Einwohnerzahl Parlamentssitze erhalten soll.
Bisher war das gesamte Land als ein einziger Wahlkreis gewertet worden. Außerdem will Maliki durchsetzen, dass künftig, wie schon bei den Provinzwahlen im Januar, auch für die nationalen Parlamentswahlen offene Listen gelten. Das bedeutet, dass die Wähler sowohl für eine Person, als auch für eine Partei, Allianz oder Gruppierung stimmen können.
Die Abgeordneten der INA plädieren indes für die Beibehaltung von geschlossenen Listen, da sie sich dadurch mehr Stimmengewinne erhoffen. Am vorigen Mittwoch (21.10.) beschloss nun das Parlament, dass der Streit vom Nationalen Sicherheitsrat geschlichtet werden soll und vertagte die Abstimmung über das Gesetz auf vergangenen Sonntag.
Als die Parlamentarier sich an ihrem Tagungsort versammelten, explodierten die beiden Bomben nur wenige Meter davon entfernt.
Birgit Svensson
© Qantara.de 2009
Birgit Svensson arbeitet als Journalistin für das globale Korrespondentennetz Weltreporter.net im Nahen Osten und reist regelmäßig in den Irak.
Qantara.de
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