Nicht der Richtige
"He is the right guy for Iraq", der richtige Kerl für den Irak, lobte George W. Bush, als Nuri al-Maliki im April 2006 zum ersten Mal irakischer Ministerpräsident wurde. Es war eine der unzähligen Fehleinschätzungen des damaligen US-Präsidenten. Dagegen bezeichnete die irakische Presse den Vorsitzenden der religiös-schiitischen "Dawa"-Partei, der plötzlich und unerwartet den höchsten Posten in der Post-Saddam-Ära übernahm, als "Ersatzreifen“ oder "Reserverad".
Und tatsächlich war Nuri al-Maliki nichts anderes als ein Kompromisskandidat, nachdem die beiden potentiellen Anwärter sich in einem zähen Machtkampf verausgabt hatten. Ibrahim al-Dschafari, den Teheran begünstigte, war vor Nuri al-Maliki Chef der "Dawa"-Partei und wurde dann Premier der Übergangsregierung. Washington setzte auf Adel Abdul Mahdi, der bereits Vizepräsident war. Heraus kam al-Maliki.
Er wolle die Iraker versöhnen, sagte er gefällig bei seiner Antrittsrede. Gerade hatte der blutige Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten begonnen und Ibrahim al-Dschafari als Übergangspremier musste sich vorhalten lassen, das Ausmaß des Konflikts nicht rechtzeitig erkannt zu haben.
"Sollen sie doch zur Hölle gehen!"
Al-Maliki also war die Hoffnung auf ein Ende des Mordens. Doch seine kompromisslose Haltung gegenüber den Sunniten, war schon damals präsent. "Wenn die nicht mitmachen wollen", so sagte er im Interview noch als Vorsitzender der "Dawa"-Partei, "sollen sie doch zur Hölle gehen".
Die Mehrheit der Sunniten hatte sich entschieden, die Wahlen zu boykottieren, weil sie schon damals dem Regimewechsel feindlich gegenüber standen und ihn als einen Akt der Besatzer, also der Amerikaner, ansahen. Die Folge war, dass die Verfassung weitgehend ohne sunnitische Beteiligung ausgearbeitet und verabschiedet wurde und auch bei den Wahlen zum Parlament eine sunnitische Beteiligung minimal war. Die Amerikaner aber drängten auf eine Einheitsregierung, in der alle Volksgruppen Iraks vertreten waren – sehr zum Leidwesen Malikis, wie sich nachher herausstellen sollte.
Wegen seiner ab 1968 bestehenden Mitgliedschaft in der "Dawa"-Partei, die in der Opposition zum Sunniten Saddam Hussein stand, wurde al-Maliki 1980 zum Tode verurteilt, worauf er mit anderen Mitgliedern der Partei in den Iran floh. Einige seiner engsten Familienmitglieder wurden im Irak ermordet.
Seine abgrundtiefe Abneigung gegen alles Sunnitische konnte der 64-jährige Literaturwissenschaftler in seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident zwar noch halbwegs verbergen, in der zweiten brach sie dann voll aus. Noch unter den Augen der Amerikaner, als diese 2010 schon im Abzug begriffen waren, machte Nuri al-Maliki sich daran, einen Schiitenstaat aufzubauen. Immer mehr Posten im öffentlichen Dienst wurden mit Schiiten besetzt, Sunniten hatten keine Chance.
"Schiitisierung" des Irak
Heute ist die "Schiitisierung" bis auf die unteren Ebenen vollzogen: Manager von staatlichen Hotels sind ebenso Schiiten, wie Schulleiter und Theaterdirektoren. Wichtige Kabinettsposten, wie das Verteidigungs- und das Innenministerium, reservierte al-Maliki für sich selbst, da er angeblich keinen "geeigneten" Sunniten fand. Die Amerikaner hatten einen Proporz bei der Vergabe der Regierungsverantwortung eingeführt.
Doch damit nicht genug. Als Erstes legte er sich nach dem Abzug der US-Truppen mit Vizepräsident Tarek al-Hashemi an, dem damals ranghöchsten Sunniten in der Regierung, und bezichtigte ihn als Handlanger des Terrors. Medienwirksam sagten zwei seiner Leibwächter im Staatsfernsehen, sie hätten einen Putsch gegen den Premier geplant. Hashemi wurde mit Haftbefehl gesucht und in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Heute lebt er im Exil in der Türkei.
Als Nächstes stand sein eigener Stellvertreter auf der Liste der Geächteten. Saleh al-Mutlaq warf seinem Dienstherrn vor, diktatorische Züge anzunehmen und verglich ihn mit Saddam Hussein, der ebenfalls seine Widersacher mit brutalen Methoden aus dem Weg räumen ließ. Als Strafe wurde Mutlaq vom Dienst suspendiert und in einem neunmonatigen Hausarrest in der "Grünen Zone" versetzt. Al-Maliki ließ alle Genehmigungen und Lizenzen Mutlaqs einziehen, so dass der Sunnit beim Verlassen der Sicherheitszone schutzlos zum Freiwild geworden wäre.
Letztes Beispiel für den Umgang mit sunnitischen Kabinettskollegen: Finanzminister Rafi al-Issawi. Ihm wurde vorgeworfen, in Terroraktivitäten von al-Qaida verwickelt gewesen zu sein. Zwei seiner Leibwächter wurden verhaftet und wie bei Hashemi vor laufender Kamera zum Geständnis gezwungen – unter Androhung von Folter, wie sich später herausstellte. Issawi trat von seinem Posten als Finanzminister zurück und versteckt sich seitdem in seiner Heimatprovinz Anbar, die inzwischen weitgehend unter der Kontrolle der ISIS steht.
Kontrollverlust
Die sunnitische Organisation "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) hat in nur wenigen Tagen ganze Landstriche überrollt. Neben der Provinz Anbar, nordwestlich von Bagdad, haben sie die Provinz Ninive im Norden mit der Millionenstadt Mossul, die Provinz Salah ad-Din mit der Hauptstadt Tikrit und Teile von Bakuba, Haupstadt der Provinz Didschala für sich einnehmen können. Alle Provinzen sind entweder mehrheitlich sunnitisch oder weisen einen großen Anteil an sunnitischer Bevölkerung auf.
Was sich im Irak derzeit abspielt ist also nicht allein das Machwerk einer Terrororganisation. Es ist der Aufstand der Sunniten gegen den schiitischen Regierungschef. Die Demütigungen, Ausgrenzungen und Benachteiligungen der letzten Jahre finden nun unter dem Deckmantel der ISIS ihre Reaktion.
Das haben auch die Amerikaner erkannt. Es werden keine Kampftruppen in den Irak entsandt, entgegnet US-Präsident Barack Obama auf den Hilferuf al-Malikis nach Luftschlägen gegen die ISIS. Das Problem müsse politisch angegangen werden. Nur eine Regierung, die alle Volksgruppen Iraks integriert, hätte eine Chance auf eine Lösung. Soll heißen: Al-Maliki ist nicht "the right guy for Iraq".
Birgit Svensson
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de