Machtpoker mit dem religiösen Führer

Mit ihrer Einflussnahme auf den Expertenrat suchen radikal-islamische Kräfte die Auseinandersetzung mit den konservativen Pragmatikern und setzen dabei auch Ali Khamenei unter Druck.

Von Faraj Sarkohi

Während in den westlichen Medien die Auseinandersetzungen Irans mit der Internationalen Gemeinschaft über die Atompolitik alle anderen Problematiken des Landes überschatten, streiten die Regierungsfraktionen im Iran über eine andere Fragestellung, der sie maßgebliche Bedeutung für die Zukunft der Islamischen Republik beimessen.

Bei einer der letzten Sitzungen des "Expertenrates" (majles-e khobregan), jenes Gremiums, das den religiösen und politischen Führer (rahbar) Irans wählt und ihn kontrolliert, rührten zwei einflussreiche Großayatollahs in Form eines theologischen und hermeneutischen Disputs mit scholastischen Methoden über die "Auffindung" oder die "Wahl" des Rahbars an einer der aktuellsten Herausforderungen der Islamischen Republik.

Die Mitglieder des Expertenrates werden von der Bevölkerung aus den islamischen Rechtsgelehrten (fuqaha) und Mojtaheds ausgewählt – Geistliche, die ihre religiösen Studien abgeschlossen und das Recht haben, Fatwas zu erlassen. Die Wahl des Expertenrates steht in Kürze bevor, innerhalb der verschiedenen Regierungsströmungen hat der Kampf um die Sitze bereits begonnen.

Zwist unter Ayatollahs: Meshkini kontra Yazdi

Der Disput zwischen Ayatollah Meshkini, dem Vorsitzenden des Expertenrats, nach dessen Ansicht diesem Gremium die Wahl des Rahbar und dessen Aufsicht obliegt, und Ayatollah Yazdi, dem Vize-Vorsitzenden des Expertenrates und ehemaligen Leiter der Judikative, wurde während einer öffentlichen Sitzung rasch unterbrochen und auf eine nicht öffentliche Zusammenkunft vertagt.

Ayatollah Yazdi genießt bei dieser Auseinandersetzung die Unterstützung von Ayatollah Mesbah, der nicht nur großen Einfluss auf den Präsidenten und die Mehrheit des Parlaments hat, sondern auch auf die Revolutionswächter, die Armee und die Geheimpolizei.

Zwar ist die Diskussion der zwei Großayatollahs, die auch innerhalb der Staatspresse sowie in den religiösen Hochschulen und Moscheen ihren Niederschlag fand, der Form nach ein theologisch-scholastisches Streitgespräch. Doch spiegelte die Debatte auch den gegenwärtigen Widerspruch der iranischen Regierung wider.

Machtkompetenzen des religiösen Führers

Laut iranischer Verfassung obliegt dem religiösen und politischen Führer die Bestimmung sowie Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik und der Sicherheits-, Wirtschafts- und Kulturpolitik. Er ist Oberkommandeur der Streitkräfte – das heißt der Armee, der Revolutionswächter, der Basij und der Geheimpolizei – und wählt den Leiter der Judikative sowie die islamischen Rechtsgelehrten, die Mitglieder im Wächterrat sind.

Der Wächterrat legt wiederum die Zulassung der Kandidaten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fest und besitzt das alleinige Recht, Verfassungstexte auszulegen.

Dem Rahbar unterstehen auch die nicht staatlichen, wirtschaftlich einflussreichen Stiftungen, die mehr als 70 Prozent der Wirtschaft des Landes ausmachen. Er hat das Recht, das Parlament aufzulösen und den Präsidenten abzusetzen.

Die islamische Verfassung Irans, die auf dem Konzept der "Regierung des islamischen Rechtsgelehrten" (welayat-e faqih) basiert, vereint den Großteil der Macht auf den Rahbar, dessen Wahl an den Expertenrat delegiert wird.

Der erste religiöse und politische Führer Irans, Ayatollah Khomenei, wurde noch nicht vom Expertenrat in sein Amt eingesetzt. Da ihm die Mehrheit der Bevölkerung Gefolgschaft leistete, konnte er sich klar durchsetzen. Sein Nachfolger, Ali Khamenei, der vom Expertenrat gewählt wurde, obwohl er nicht die erforderliche religiöse Qualifikation erreicht hatte und über keine religiöse Autorität verfügte, wird dagegen mit zahlreichen Problemen konfrontiert.

Im Zwielicht der Großayatollahs

Die Mehrheit der Bevölkerung und selbst einige Organe, die Khamenei zum Rahbar erklärten, folgen in religiösen Angelegenheiten einem anderen Mojtahed. Montazeri, der bekannteste Mojtahed Irans mit den meisten Anhängern, hat sich Kahmenei offen entgegengestellt. Der Einfluss von mehr als fünf angesehenen Großayatollahs in Iran hat daher Khamenei dazu veranlasst, sich mit der politischen Führung zu begnügen.

Doch die Ayatollahs versuchen durch die Unterstützung verschiedener Flügel innerhalb der Regierung auch im politischen Bereich größeren Einfluss zu gewinnen. Mit der Befreiung der religiösen Hochschulen im irakischen Najaf entwickelte sich der iranischstämmige Ayatollah Sistani zu einem mächtigen Konkurrenten. Der Machtzuwachs der radikal linken Fundamentalisten brachte den derzeitigen Rahbar ebenfalls in Bedrängnis.

Die radikal linken Fundamentalisten verfolgen mit ihren populistischen Programmen und Slogans von der Rückkehr zu den anfänglichen Werten der Islamischen Revolution und mit Hilfe der Unterstützung der Mehrheit der Kommandeure der Revolutionsgarden und der Geheimpolizei den Traum einer starken Regierung, deren religiöser und politischer Führer die islamischen Gesetze in die Tat umsetzt und sich gegen den Unglauben in der Welt erhebt.

Diese Gruppe, die derzeit das Parlament und das Präsidentenamt dominiert, strebt nunmehr die Kontrolle des Expertenrates an. Sie versucht Konservative und religiöse Pragmatiker aus ihren Schlüsselpositionen zu verdrängen und den derzeitigen Rahbar unter Druck zu setzen. Gemäß ihrer theoretischen Anschauungen besteht das Hauptziel der islamischen Regierung darin, den Weg für die Wiederkehr des zwölften Imams zu ebnen und den letzten Kampf zwischen dem Islam und den Nichtgläubigen vorzubereiten.

Zwischen republikanischer und islamischer Herrschaft

Ayatollah Mesbah, ein einflussreicher Theoretiker dieses Flügels, bezeichnete in den letzten Monaten Wahlen, Mehrheitsentscheidungen und Menschenrechte offen als unislamisch.

Seiner Ansicht nach wird der religiöse, politische Führer und Rechtsgelehrte (waliye faqih) von Gott auserwählt. Die Pflicht der Menschen und des Expertenrates besteht demnach darin, diesen zu finden und ihm zu gehorchen. Der Widerspruch zwischen republikanischem Anspruch und islamischer Herrschaft, der sich in der iranischen Verfassung manifestiert, würde so im Sinne des Islams gelöst.

Der derzeitige religiöse Führer Irans, Ali Khamenei, verdankt seine Stellung den Militär- und Sicherheitsorganen sowie der Unterstützung derjenigen Ayatollahs, die trotz ihrer Überlegenheit auf theologischem Gebiet seine Wahl bestätigten.

Khamenei unterstützte bisher die gemäßigten religiösen Reformer und Pragmatiker und versuchte gleichzeitig mit finanziellen sowie politischen Zugeständnissen und mit kämpferischer Rhetorik die radikalen Fundamentalisten zufrieden zu stellen. Ein möglicher Sieg der radikal linken Fundamentalisten bei der Wahl des Expertenrates würde diese Politik jedoch vor schwerwiegende Probleme stellen.

Im Kampf gegen Liberalismus und Sozialismus beanspruchten islamische Gruppierungen in den letzten hundert Jahren, dass der Islam diesen politischen Herrschaftsformen überlegen sei: fortschrittlicher als der Liberalismus, was die Gewährung bürgerlicher Freiheitsrechte betrifft, und progressiver als der Kommunismus hinsichtlich der Garantie sozialer Gerechtigkeit. Indem die radikal linken Fundamentalisten politische Elemente wie Mehrheitsentscheidungen und Wahlen ablehnen, widerrufen sie jedoch diesen Anspruch.

Faraj Sarkohi

© Qantara.de 2006

Aus dem Persischen von Sabine Kalinock

Faraj Sarkohi begründete 1985 das Kulturmagazin "Adineh" (Freitag), deren Chefredakteur er für elf Jahre war. Als einer der Wortführer der Schriftsteller-Initiative ("Text der 134") gegen Zensur wurde er 1996 verhaftet. Ein Jahr darauf wurde er in einem geheimen Verfahren zum Tode verurteilt. Durch internationale Proteste wurde das Urteil jedoch revidiert. Zwei Jahre darauf konnte er nach Frankfurt a. Main ausreisen, wo er heute lebt. Sarkohi erhielt 1998 den Kurt-Tucholsky-Preis für politisch verfolgte Schriftsteller und ist Ehrenmitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

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