Wahlfiasko in Teheran
Am 10. Mai fand im Iran die zweite Wahlrunde für das Parlament statt. Ergebnisse will der Innenminister bisher nicht bekanntgeben. Er ließ nur wissen, dass die Wahlbeteiligung noch niedriger als bei der ersten Wahlrunde gewesen sei, an der sich 41 Prozent der Iraner beteiligt hatten. Laut Ex-Kommunikationsminister Azari Jahromi soll die Wahlbeteiligung in Teheran bei etwa 8 Prozent gelegen haben. Der iranische Volksmund nennt die Wahlen nur noch "Wahlzirkus".
"Es ist eine Schande für eine Nation […] mit so hehren Ansprüchen […], eine Wahlbeteiligung von 35 oder 40 Prozent [zu haben]. […] Es ist klar, dass die Menschen weder Vertrauen noch […] Hoffnung in ihr politisches System haben." Diese Worte stammen von keinem anderen als Ali Khamenei, dem Obersten Führer der Islamischen Republik Iran. Er hatte sie im Jahr 2001 bezogen auf die Wahlen im Land des Erzfeindes USA, aber auch in Bezug auf den Westen allgemein geäußert.
Nach Bekanntgabe der jüngsten Wahlergebnisse im Iran am 1. März 2024 ging das Video seiner alten Rede viral. Denn die Häme des Ayatollah gegenüber dem Westen fiel nun auf ihn selbst und das politische System, dem er vorsteht, zurück: Die Beteiligung an den iranischen Parlamentswahlen am 1. März hatte mit 41 Prozent einen weiteren historischen Tiefpunkt erreicht.
Dennoch ließ es sich Khamenei nicht nehmen, stoisch von einer "epischen Wahlbeteiligung" zu sprechen, einem "Dschihad des Volkes", das damit "alle Feinde besiegt" hätte, die es von der Stimmabgabe hätten abhalten wollen.
Aber auch die offiziell bekanntgegebenen 41 Prozent sind schon mit Vorsicht zu genießen. Denn diese Zahl wurde unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale von der Nachrichtenagentur Fars, die den Revolutionsgarden gehört, verkündet – eine Quote also, die vom Machtzentrum zu dem Zeitpunkt bereits vorgegeben zu sein schien. Drei Tage vor dem Wahltag hatte Fars noch triumphierend von einer zu erwartenden Beteiligung von 70 Prozent gesprochen.
Soziale Realität versus Regime-Propaganda
Doch die gesellschaftliche Realität ist eine gänzlich andere als vom Regime propagiert. Angesichts der Desillusionierung der iranischen Bevölkerung gegenüber dem Establishment dürfte die tatsächliche Wahlbeteiligung deutlich unter der offiziell verkündeten liegen – vielleicht sogar nur bei der Hälfte.
Nach einer von einem staatlichen Institut durchgeführten Umfrage lag die Wahlbeteiligung am 1. März bei 30 Prozent, in der Provinz Teheran bei 22 Prozent und in der Millionenstadt selbst – wo jeder neunte Iraner lebt – sogar bei nur 15 Prozent.
Während der "Frau, Leben, Freiheit"-Proteste im Herbst und Winter des Jahres 2022 hatte ein durchgesickertes Regime-Memo enthüllt, dass die Behörden davon ausgingen, dass 80 Prozent der iranischen Bevölkerung mit dem revolutionären Aufstand sympathisierten.
Seit einigen Jahren schon kann man die zunehmend ausgedünnte gesellschaftliche Basis des Regimes auf 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung schätzen – und es waren auch diese, die bei den letzten Wahlen den Weg zu den Urnen fanden.
Zu einer weiteren Wählergruppe gehören jene, die entweder aufgrund von Zwang oder durch Anreize des Staates ihre Stimme abgaben: Erstere wurden vor beruflichen Folgen gewarnt, wie etwa manche Staatsbedienstete, letztere, wie etwa Soldaten, wurden mit vier Tagen Urlaub gelockt.
Außerdem berichten zwei Abgeordnete, dass ihnen Fälle bekannt seien, bei denen Personalausweise von Bürgern bei den Wahlen verwendet wurden, die gar nicht daran teilnahmen.
Freiheitskampf im Mullah-Staat
Der Aufstand in Iran wird maßgeblich von Frauen getragen: Vier Autorinnen bieten Innenansichten und bewegende Momentaufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Rezensionen von René Wildangel für Qantara.de
Doch der neue historische Negativrekord deutet auch darauf hin, dass es sogar innerhalb der verbliebenen Basis des Regimes brodelt. Dort hat sich Frustration breitgemacht: Einerseits kollidiert der ideologische Anspruch der Islamischen Republik auf soziale Gerechtigkeit mit der grassierenden Korruption und der Unfähigkeit der jetzigen Hardliner-Regierung, die wirtschaftliche Not zu mindern.
Andererseits klafft eine Kluft zwischen der Rhetorik der Regierung, in der sie die Palästinenser bedingungslos unterstützt, und ihrer spürbaren Zurückhaltung, sich im Krieg in Nahost direkt mit Israel oder den USA anzulegen.
Vom Scheitern der Reformer zur "Purifizierung"
Noch nie waren Wahlen in der Islamischen Republik frei oder fair. Der ultrakonservative Wächterrat filtert im Vorfeld die Kandidaten nach ihrer Systemtreue. Oft blieb nur, sich zwischen dem kleineren Übel, den sogenannten Reformern, und dem größeren, den Hardlinern, zu entscheiden.
Doch diese von oben oktroyierte, autoritäre Demokratiesimulation hat seit mindestens seit Winter 2017/2018 ihre Strahlkraft verloren. Bei landesweiten Protesten wurde "Weder Reformer noch Hardliner! Das Spiel ist aus!" skandiert – eine klare Absage an die als Teil des Problems statt als Teil der Lösung wahrgenommenen Reformer aus der islamistischen Elite.
Zwar wurden bei den diesjährigen Wahlen fast alle Reformisten oder Zentristen (Konservative) bereits im Vorfeld ausgeschlossen, aber deren Zulassung hätte auch nichts mehr an ihrem historischen Legitimitätsverlust in den Augen der Menschen verändert.
Zugelassen wurden stattdessen 15.000 Kandidierende, die dem Machtzentrum – also dem Obersten Führer und seinem als Parallelregierung fungierenden "Büro" sowie den Revolutionsgarden – gegenüber loyal eingestellt sind. Vorangegangen war ein Prozess der Machtmonopolisierung, im Regimejargon als "Purifizierung" bezeichnet, durch einen immer kleineren Teil der Elite, die dem Führerkult um Khamenei huldigt.
Somit verlief die Wahl diesmal zwischen verschiedenen Vertretern des Hardliner-Lagers, das von Fundamentalisten bis hin zu Extremisten reicht und sowohl die alte Regimegarde als auch eine junge und oft noch radikalere Generation umfasst. Dabei geht es nicht zuletzt um Verteilungskämpfe zwischen diversen oligarchischen Clans innerhalb eines hoch korrupten und kleptokratischen Systems.
Innen- und außenpolitische Auswirkungen
Innenpolitisch ist die stetig sinkende Wahlbeteiligung ein deutliches Zeichen für die wachsende Desillusionierung gegenüber dem politischen System. Immerhin ist es die dritte Wahl innerhalb von vier Jahren, bei der sich die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner der Stimme enthalten hat. Eine solche Legitimitätskrise ist in einer so dynamischen und politisch bewussten Gesellschaft wie der iranischen besonders bedeutsam.
So gibt die geringe Wahlbeteiligung den aktiv nach Wandel Strebenden moralischen Auftrieb, da sie diese als Beweis für eine schweigende Mehrheit ansehen können, die das derzeitige Regime ebenfalls ablehnt. Ob sich daraus koordiniertere und breitere Proteste entwickeln, bleibt abzuwarten.
Während sich die Machthaber traditionell auf ihren Sicherheitsapparat stützen, stellt die fortschreitende Erosion ihrer Legitimität mittelfristig eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, zumal aufgrund des fortgeschrittenen Alters Khameneis ein Wechsel an der Staatsspitze ansteht.
Auch nach außen hin hat Irans Bevölkerung sowohl durch landesweite Proteste als auch durch Wahlboykotte eine klare Botschaft der Unzufriedenheit und des Wunsches nach Veränderung zum Ausdruck gebracht. Dies ist auch ein deutliches Signal der veränderten politischen Landschaft im Iran an die Adresse des Westens. Für ihn besteht die Herausforderung nun darin, diese Signale richtig zu interpretieren und seine Iran-Politik dahingehend neu zu justieren, dass sie mit den Bestrebungen der iranischen Zivilgesellschaft übereinstimmt.
Kampf um Selbstbestimmung
Im Kampf der Iranerinnen und Iraner für Selbstbestimmung zeigen sich ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt. Deshalb sind die Proteste seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini feministisch, schreibt Katajun Amirpur. Feministische Außenpolitik würde bedeuten, sie in diesem Wunsch zu unterstützen.
Diese Wahlen haben noch deutlicher gemacht, dass sich Staat und Gesellschaft im Iran weiterhin auf Kollisionskurs befinden. Dabei steht ein zunehmend auf Repression und Machtmonopolisierung ausgerichtetes autoritäres Regime einer Zivilbevölkerung gegenüber, die sich vollends bewusst ist, dass die Elite des Landes Agenda und Prioritäten verfolgt, die ihren eigenen Interessen diametral gegenüberstehen.
Dieser Gegensatz lässt sich gut an diesem De-facto-Austausch ablesen: Im Vorfeld der Wahlen am 1. März hatte der Befehlshaber der Luftwaffe der Revolutionsgarden erklärt, dass die Teilnahme an den Wahlen die Sicherheit des Landes gegenüber äußeren Bedrohungen stärken würde: "Heute […] füllt die Präsenz des Volkes [an der Wahlurne] das Magazin und die Faust der Streitkräfte."
Im Gegensatz dazu deutete ein Straßengraffiti als deutliches Zeichen des zivilen Widerstands auf eine andere Art der Stärkung des Regimes durch die Stimmabgabe hin – nämlich darauf, dass sich seine repressiven Machenschaften nicht gegen Bedrohungen von außen, sondern von innen richten: "Ihre Gewehrläufe füllen sich mit den Stimmzetteln."
© Iran-Journal 2024
Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Politologe, Iran-Experte und Direktor des Center for Middle East and Global Order (CMEG). Er ist außerdem Autor des Iran-Eintrags im in Kürze erscheinenden neuen Bertelsmann-Transformations-Index (BTI).