Radikale Mäßigung
Am ersten Januar 2018, dem fünften Tag des Protestes im Iran, entschied sich Präsident Rohani für einen Kurs, den die Sicherheits- und Militärkräfte des Landes bereits vor ihm eingeschlagen hatten. Während er darüber sprach, wie wichtig es sei, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten zu beachten und das Demonstrationsrecht der Menschen zu berücksichtigen, sah er über die tatsächliche Lage hinweg. Er meinte: "Es gibt eine verschwindend kleine Minderheit, die die Bühne des Landes betritt und aktiv wird: Sie stimmt Parolen gegen das Gesetz und den Willen des Volkes an, beleidigt die Heiligkeit und die Werte der Revolution und zerstört öffentliches Eigentum. Diese Leute werden wir einhegen und unschädlich machen."
Dass ein solches "Einhegen" seit Langem zum Regierungsgeschäft – aller Regierungen der Islamischen Republik – gehört, daran besteht kein Zweifel. Den Wohlstand zu mehren, Untertanen um sich zu scharen und die Macht zu kontrollieren, stellt ihre ureigenste Aufgabe dar. Und bisweilen erfolgt auch der Rückgriff auf härtere Mittel. Die letzte Konsequenz des "Einhegens" wird durch zwei wichtige Institutionen der modernen iranischen Ordnung verkörpert: Banken und Gefängnisse. Diese zwei Arten von Einrichtungen können uns dabei helfen zu verstehen, was im Iran das Fass zum überlaufen brachte und die Proteste vom Januar auslöste.
Ökonomisch am Ende
Bereits unter der Regierung von Hashemi Rafsandschani (1989-1997) wurde im Iran der Boden für Privatisierungen und eine Ökonomie des "östlichen" Neoliberalismus bereitet, der während der Rohani-Jahre zur Reife gelangte. Sie hatte letztlich die Herausbildung einer Bevölkerungsschicht von prekär Beschäftigten und verzweifelten Menschen zur Folge, die hofften, ihre düsteren Aussichten seien an das Schicksal der Regierung gekoppelt, eine Regierung, die ihnen in Wirklichkeit aber nur ihr Lebensblut aussaugte. Da sie bis heute von staatlicher Hilfe abhängig sind, waren und sind diese Menschen bisher die eifrigsten Unterstützer des Regimes.
Aufgrund des wirtschaftlichen Drucks, der ihr durch internationale Sanktionen und die Strukturpolitik der jeweiligen Regierung auferlegt wurde, ist diese Klasse mittlerweile so deutlich gewachsen, dass sie heute die traditionelle Mittelklasse miteinschließt. Nun scheint sie am Ende ihrer Kräfte zu sein – ganz ähnlich, wie es Fjodor Dostojewski in seinem Roman "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" beschreibt.
Es sollte daher nicht überraschen, dass diese prekarisierte Mittelklasse heute dazu tendiert, sich gegen beide Fraktionen des iranischen Zweiparteiensystems (Konservative und Reformer) gleichzeitig zu wenden. Tatsächlich bringen die Demonstranten genau das zustande, was das religiös-politische System selbst nie erreichen konnte – nämlich einen Konsens zu schaffen: Denn dieses Mal richteten sich die Protestierenden gegen sämtliche politische Fraktionen und Cliquen zugleich: Reformer, Konservative, die gehobene Mittelklasse und die gesamte Regierungselite. Sie alle werden von ihnen nunmehr in Frage gestellt.
Auch wenn diese umfangreiche Klasse bisher angesichts ihrer erheblichen Abhängigkeit von der Regierung weniger dazu neigte, sich politischen, sozialen oder arbeitsrechtlichen Bewegungen anzuschließen, so ist sie jetzt dabei, sich der Kontrolle des Großen Bruders zu entziehen. Genauer gesagt wurde diese Möglichkeit durch einen politischen Streit innerhalb des Regierungslagers eröffnet. Konservative Kräfte und Gegner von Präsident Rohani träumten davon, die Leiden der prekarisierten Mittelklasse für ihren eigenen Vorteil zu nutzen. Sie glaubten, sie könnten vor den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen die Stimmung der Wähler dadurch beeinflussen, dass sie den Hexenkessel der wirtschaftlichen Sorgen anheizen – ganz im Stil von Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Jetzt allerdings ist der Deckel des Kessels in die Luft geflogen, politische Figuren aller Seiten haben sich das Gesicht verbrannt.
Diffuse Sehnsucht nach der Vergangenheit
Dieser überkochende Kessel ist die Folge der iranischen Wirtschaftspolitik. Und diese Situation ist keineswegs ausschließlich ein iranisches Phänomen, sondern manifestiert sich weltweit: Der Neoliberalismus und seine politischen sowie ökonomischen Folgen haben den Kapitalismus in eine Krise gestürzt. Die Rohani-Regierung ist daher auch nicht mehr besonders angetan von der Idee, sich vollends im globalen Wettbewerbsmarkt zu integrieren, da dies Auswirkungen hätte, die sie wohl lieber vermeiden möchte.
Sogar die reaktionären Forderungen, die manche Demonstranten zuletzt gestellt hatten (wie etwa die nach der Rückkehr zur Diktatur von Mohammed Reza Pahlevi und seinem Vater) sind in Wirklichkeit die iranische Art, sich eine Rückkehr in die Vergangenheit zu wünschen – eine diffuse Sehnsucht, die von der breiten Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage zeugt. Sie korrespondiert in gewisser Weise global mit der Unzufriedenheit von Bevölkerungsteilen in anderen Ländern, wie man am Beispiel des Brexit oder der Wahl Donald Trumps beobachten konnte.
Was bedeutet "Mäßigung?"
Als sich Hassan Rohani um die Präsidentschaft im Iran bewarb, präsentierte er sich als Erbfolger Rafsandschanis sowie als gemäßigter Politiker mit einer neoliberalen Wirtschaftsagenda. Doch vor dem Hintergrund einer allenfalls mäßigen ökonomischen Ausgangslage bleibt wohl nichts wirklich gemäßigt: Denn um unter den immer noch miserablen ökonomischen Bedingungen im Iran "Mäßigung" herzustellen, muss erst ein gravierender Wandel erfolgen. Und es müssen unliebsame Stimmen zum Schweigen gebracht werden.
Eine Vielzahl von Rohanis politischen Maßnahmen werden im Namen der sogenannten "Mäßigung" und Anpassung vorgenommen: Das Arbeitsrecht, die Kreditbedingungen, die Reform der Wohnungsprogramme, neue Beschäftigungspläne und Lehrpläne an den Universitäten. Doch in Wirklichkeit strotzen diese Maßnahmen nur so vor Radikalität. Denn hinter ihnen steht die Absicht, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren und damit die Einkommensungleichgewichte eher noch zu festigen.
Eine kontrollierte parlamentarische Demokratie nach dem neoliberalen Modell ist das bevorzugte politische System des heutigen Zeitalters. Und die Methode, dieses System zu festigen, besteht beispielsweise darin, die Rolle der Humanwissenschaften weiter zu schwächen und alle Intellektuellen aus dem Kreis der wichtigsten Entscheidungsträger zu beseitigen – mit Ausnahme der Ökonomen des sogenannten freien Marktes.
Angesichts dieser Situation sollte das, was sich im Iran in den Straßen der kleineren, ärmeren Städte zusammengebraut hat, nicht sonderlich verwundern. Bei Thomas Hobbes können wir lesen, dass Menschen, wenn sie nur genug Angst haben, zu allem fähig sind. Gemeint ist damit eine diffuse Angst, die stärker ist als alles andere: eine kollektive Furcht, die in Situationen des Zusammenbruchs entstehen kann. Diese Angst der iranischen Gesellschaft wird durch Armut, Korruption, Erdbeben, Umweltverschmutzung und andere Katastrophen angefacht.
In der Tat kommen die jüngsten Ereignisse keineswegs unerwartet. Die betroffeneniranischen Bevölkerungsschichten drücken ihre Angst schon seit Langem in Form von vereinzelten Straßenprotesten, Demonstrationen und Besetzungen von Behörden und Fabriken aus.
Von subversiven Demonstranten und Agitatoren
Wie in vielen anderen Ländern auch wurden Anhänger politischer und sozialer Protestbewegungen im Iran als "subversive Demonstranten" (oder "Agitatoren") denunziert, da sie angeblich versuchten, durch Unruhestiftung und Zerstörung öffentlichen Eigentums die Sicherheit des Landes zu gefährden. Wir sollten uns daran erinnern, dass die größten Agitationen und Unruhen in Wirklichkeit auf der Ebene des öffentlichen Lebens zu finden sind. Die wahren Agitatoren sind die Mechanismen und Akteure, die durch ihr Verhalten und ihre Politik das gesellschaftliche Zusammenleben ins Chaos gestürzt und zerstört haben: die Mächtigen, die Anführer großer Wirtschaftsmonopole und all jene, die zum wirtschaftlichen Programm der sozialen Verelendung beigetragen haben.
Die Proteste waren und sind nicht etwa auf die Einmischung ausländischer Feinde zurückzuführen, wie es das iranische Regime beteuert. Sie sind vielmehr das Ergebnis der unhaltbaren Lebensumstände großer Bevölkerungsteile. Gegenwärtig versuchen beide Flügel der iranischen Politik, ihre Unwissenheit und ihre Angst vor Demonstranten damit zu rechtfertigen, dass ihre widerspenstigen Bevölkerungsteile im Auftrag ausländischer Mächte agieren. Doch damit machen sie ihre letzte Hoffnung zunichte: Denn "Reform" bedeutet, adäquate Antworten auf aktuelle Krisenlagen zu finden – und diese nicht zu leugnen.
Amin Bozorgian
© OpenDemocracy 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff