Reiche Geschichte, arme Gegenwart
Eine Metallkugel ist seit Monaten das Stadtgespräch in Aleppo. Auf dem zentralen Platz Saadallah aj-Jabiri gegenüber dem Denkmal für die Gefallenen im Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich dient die angeblich größte Metallkugel im Nahen Osten als Bühne für diverse Veranstaltungen.
Viele Bewohner der Stadt können der Konstruktion nicht viel abgewinnen. Ebenso wenig der feierlichen Beleuchtung rund um den Platz, die angesichts des Strommangels in der Stadt, für viele ein Ärgernis ist.
Die Neuerungen am Platz Saadallah aj-Jabiri hat Aleppo ihrer Wahl zur diesjährigen islamischen Kulturhauptstadt zu verdanken. Die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) hat beschlossen, jedes Jahr drei Städte aus der islamischen Welt zu Hauptstädten der islamischen Kultur zu erklären.
Drehscheibe islamischer Hochkultur
Sie sollen der Welt als Vorzeigebeispiele für die islamische Zivilisation präsentiert werden. Den Anfang machte im letzten Jahr Mekka, als Geburtsort des Islam. Dieses Jahr dürfen Aleppo, Isfahan und Timbuktu sich mit dem Titel schmücken.
Mohammad Kujjah, Direktor des archäologischen Vereins und des Generalsekretariats der Feierlichkeiten in Aleppo, ist stolz auf seine Stadt, die noch vor Damaskus, Istanbul und Kairo die Kriterien der Konferenz islamischer Staaten erfüllt hat.
In seinem Büro in unmittelbarer Nähe der Zitadelle könnte er stundenlang über "Halab" (Aleppo) erzählen, die bereits im zweiten Jahrtausend vor Christus diesen Namen trug. Die nordsyrische Stadt gehört zu den ältesten noch bewohnten Städten der Welt. 1986 wurde die Altstadt in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste aufgenommen.
Die imposante Zitadelle, die Moscheen, Kirchen, Schulen, Khane, Hammams, überdachten Souks und Krankenhäuser spiegeln sämtliche Epochen der islamischen Geschichte wider. Die Blütezeit erlebte die Stadt unter Herrschaft des Hamdanidenfürsten Saif ad-Daula im zehnten Jahrhundert. Er lockte prominente Literaten und Wissenschaftler an sein Hof, wie etwa den Dichter al-Mutannabi und den Mathematiker al-Khawarizmi.
Jahrhunderte lang war die Stadt ein wichtiges Handelszentrum. Sie weist heute noch eine große ethnische und religiöse Vielfalt auf. Aleppo steht auch für schillernde Namen aus der Zeit der arabischen Renaissance (Nahda), wie dem Publizisten Abdarahman al-Kawakibi oder der Literatenfamilie Marrash.
Finanzielle und inhaltliche Programmdefizite
Diese Reichhaltigkeit sollte sich auch im Programm widerspiegeln – ein aussichtsloses Unterfangen, wie Mohammad Kujjah jedoch erklärt: "Eigentlich braucht man Jahre, um die Vorbereitungen für ein solches Ereignis zu treffen. Aber erst Mitte des letzten Jahres erfuhren wir von der Entscheidung, Aleppo zur islamischen Kulturhauptstadt zu erklären. Und ich muss leider zugeben, dass wir lediglich ein Budget von zwei Millionen Dollar von der syrischen Regierung bekommen haben."
Weder die Organisation der Islamischen Konferenz noch die Arabische Liga waren bereit, die Stadt finanziell zu unterstützen. Das Programm, eine Mischung aus Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen und Konzerte, kann man jeden Monat von der für dieses Ereignis eigens eingerichteten Website herunterladen.
Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der "glorreichen" Vergangenheit Aleppos. Die Herausforderungen und Probleme mit denen, die inzwischen fast vier Millionen Menschen zählende Stadt seit Jahrzehnten konfrontiert ist, kommen dagegen nicht zur Sprache. Dazu gehört z.B. eine Stadtplanung, die die wachsende Einwohnerzahl berücksichtigt, die Lebensqualität verbessert und die genuine Identität der Stadt bewahrt.
Die Reaktion der Menschen auf die Feierlichkeiten ist verhalten. Einige zeigen sich unverhohlen skeptisch und geben Gerüchte wieder, die derzeit kursieren: Die Funktionäre würden doch wieder nur ihre Taschen füllen! Viele andere sind schlicht desinteressiert.
Der Musiker und Sänger Zafer Jesri kritisiert die Aleppiner: "Wir sind an Kultur nicht gewöhnt. Alle setzen sich vor den Fernseher und bewegen sich nicht vom Fleck. Ich glaube nicht, dass die Verantwortlichen Fehler gemacht haben, aber wir in Aleppo betonen immer die negativen Seiten. Wir schauen nur auf das halb leere Glas."
Kulturleben im Sterben
Der kritische Intellektuelle Abdarazzaq Id, der zugibt keine einzige Veranstaltung besucht zu haben, zeigt hingegen Verständnis für seine Mitbürger.
Alle staatlich organisierten Aktivitäten seien für die Bevölkerung verdächtig. Sie trügen den Stempel der Baath-Partei und des Geheimdienstes und werden daher mit Gleichgültigkeit honoriert. Unabhängige kulturelle Aktivitäten seien von den Machthabern unerwünscht und werden als Sicherheitsrisiko eingestuft. Das Kulturleben in Aleppo liegt im Sterben, meint Id.
Der Galerist und Fotograf Issa Touma boykotiert die offiziellen Aktivitäten. Er hat sich geweigert die internationale Fotoausstellung, die seit vergangenen Oktober in seiner Galerie läuft, unter der Schirmherrschaft der islamischen Kulturhauptstadt zu stellen: "Ich bin nicht gegen die Idee der islamischen Kulturhauptstadt, aber ich weigere mich mit unprofessionellen Menschen zusammenzuarbeiten."
Touma, der sich vor keiner Konfrontation scheut und bereits die Schließung seiner Galerie in Kauf genommen hat, spricht offen über die Machtverhältnisse in der Stadt:
"Seit vielen Jahren beklagen wir uns gegenüber dem Kulturminister über die Lage der Kultur in Aleppo. Uns geht es sehr schlecht, viele Galerien haben in den letzten Jahren geschlossen. Der Grund liegt in der starken Kontrolle des 'Amn as-Siyasi', einer der zahlreichen Geheimdienste in Syrien, über sämtliche Aktivitäten in der Stadt. In Damaskus laufen die Genehmigungen direkt über das Kulturministerium." Jede Ausstellung, die in Aleppo stattfindet benötigt den Segen des Geheimdienstes.
Die Kulturschaffenden aller politischen Schattierungen in Aleppo sind sich einig, dass der Titel "islamische Kulturhauptstadt" seit Jahrzehnten die größte Chance für die Stadt darstellt, sich international zu präsentieren.
Doch nicht nur die Kritiker äußern sich enttäuscht. Auch der regimefreundliche Schriftsteller Walid Ikhlasi, Leiter des Kulturkomitees der Feierlichkeiten, spricht von einer verpassten Gelegenheit: Zwar hätten die Veranstalter vor Ort ihr Bestes gegeben, aber in einem Klima der strikten politischen Kontrolle sei der Kultur enge Grenzen gesetzt. Das gelte auch für Städte mit einer glorreichen Jahrtausende alten Vergangenheit.
Mona Naggar
© Qantara.de 2006
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