Die Überwindung der Dunkelheit
Faszinierende Wüstenlandschaften, gewaltige natürliche Felsformationen und mittendrin große Kunstwerke in kräftigen Farben und Formen. Das Kunstfestival Desert X AlUla in Saudi-Arabien beflügelt mit seinen Kunstinstallationen in der Landschaft die kühnsten Fantasien. Das mittlerweile dritte Festival fand vom 9. Februar bis zum 23. März statt und präsentierte unter amerikanischer Leitung eine Reihe beeindruckender Objekte im Wadi Al Fann (dt. Tal der Kunst).
"Dieser Teil der Welt gehörte lange Zeit zu den relativ verlassenen Orten, sodass wir ihn nicht künstlerisch interpretiert haben", erklärt Marcelo Dantas, der zusammen mit Maya El Khalil Co-Kurator von Desert X ist. "In jeder Stadt der Welt wäre jeder dieser einmaligen Berge eine Ikone. Hier haben wir Hunderte davon."
Mit ihrem Thema "In the Presence of Absence" haben die beiden Kuratoren eine Balance zwischen internationalen, saudischen und regionalen Künstlern gefunden. "Wir wollten vor allem die Wüste und alles, was mit ihr zusammenhängt, in den Mittelpunkt stellen", sagt Khalil. "Es ist die Landschaft, die im Mittelpunkt steht, nicht der Mensch, deshalb spielt Sprache keine Rolle."
Für die eingeladenen Künstler sei es schwierig gewesen, sich auf die Monumentalität der Wüste einzulassen: "Die menschliche Wahrnehmung versagt, wenn wir an die Zeit und die Kräfte denken, die diese Landschaft geformt haben. Diese Kräfte sind für uns Menschen unvorstellbar. Die Wüste zwingt uns zu neuen Sichtweisen."
Ein Beispiel dafür ist die Arbeit der libanesischen Künstlerin Caline Aoun (geb. 1983), die sich, wie sie sagt, "mit dem beschäftigt, was man nicht sehen kann". Sie hat auf dem Boden liegende Steine minimal poliert und so einen helleren Steinkreis geschaffen: "Ich wollte der Landschaft gerecht werden. Das Polieren der Steine ist für mich eine Geste des Schutzes".
Neville Wakefield, der britische Kurator und künstlerische Leiter von Desert X, sieht im aktuellen Kunstfestival in Al-Ula ein neues Kapitel in der Geschichte von Kunst in der Landschaft, das in den kommenden Jahren noch erweitert werden soll: "Wir wollen das weltweit bekannteste Festival für Kunst in der Landschaft werden", sagt er.
Wakefield ist sich durchaus bewusst, dass die saudische Regierung einen grundlegenden Imagewandel anstrebt. Das Land, das sich bis zur Pandemie dem Tourismus verschlossen hat, investiert seit drei Jahren massiv in Kunst.
Spektakuläre Neuerfindung
Spektakulärer als jede Wüstenfantasie ist wohl nur die Neuerfindung, die Saudi-Arabien gerade vollzieht. Dabei geht es allerdings nicht um eine YouTube-Challenge à la "Verändere dein Leben in sechs Monaten", sondern um einen "Umbruch der gesamten Wirtschaft des Landes in zehn Jahren".
Das ehrgeizige Projekt von Kronprinz Mohammed bin Salman trägt den Namen "Vision 2030". Es wurde im April 2016 als strategischer Plan vorgestellt, der drei miteinander verbundene Ziele verfolgt: Die Diversifizierung der saudischen Wirtschaft weg vom Öl, die Modernisierung der Gesellschaft im Einklang mit den kulturellen Traditionen und die Stärkung des globalen Profils des Königreichs.
Der Kultursektor spielt für diesen Wandel eine entscheidende Rolle: Desert X AlUla steht somit mitten im Zentrum des Geschehens, zusammen mit mehreren parallel stattfindenden Veranstaltungen: einem Skulpturenfestival, der Diriyah Biennale in der Nähe von Riad, einer islamischen Biennale, die nächstes Jahr in Jeddah stattfinden wird, und mehreren großen und kleinen Initiativen, die den saudischen Kunst- und Kulturkalender bereichern.
"Seit dem Auftakt im Jahr 2020 spielt Desert X eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Al-Ula im Nordwesten Saudi-Arabiens zu einem etablierten und angesehenen Kunststandort, der nach und nach ein lokales und internationales Publikum anziehen soll", sagt Susan Davis, die Gründerin von Desert X. Sie hatte das Projekt im Coachella Valley, Kalifornien, USA, ins Leben gerufen. "Wir schaffen die einzigartige Möglichkeit, zeitgenössische Kunst im Dialog und in Interaktion mit der Natur zu erleben."
Kontroverse um die erste Ausgabe
Die erste Ausgabe von Desert X fand 2017 im kalifornischen Coachella Valley statt. Die erste saudische Ausgabe des Kunstfestivals sorgte von Anfang an für Kontroversen. Die Veranstaltung wurde von der internationalen Presse scharf kritisiert und von einem Großteil der internationalen Kunstszene boykottiert.
Aus Sorge um die Menschenrechtslage, fehlende Meinungsfreiheit und den allgemeinen politischen Kontext in Saudi-Arabien sind 2019 drei der vierzehn Mitglieder des Desert-X-Vorstands zurückgetreten: der Künstler Ed Ruscha, die Kunsthistorikerin Yael Lipschutz und der Stylist Tristan Milanovich. Doch nur drei Jahre später genießt das Festival in der internationalen Kunstwelt nahezu uneingeschränkte Anerkennung.
Laut Rebecca Ann Proctor, Autorin des Buches "Art in Saudi Arabia: A New Creative Economy?", blieb die jüngste Ausgabe dagegen von polemischen Angriffen verschont: "Die erste Ausgabe von Desert X in Saudi-Arabien war extrem umstritten. Die internationale Kunstszene boykottierte die Veranstaltung und die saudischen Künstler wehrten sich gegen die propagandistische Vereinnahmung", sagt sie. "Die zweite Ausgabe verlief schon deutlich ruhiger. Die internationale Presse war da. Bei der dritten Ausgabe habe ich von keiner Kontroverse mehr gehört."
In diesem Jahr seien Journalisten von Magazinen anwesend gewesen, die früher grundsätzlich nicht über Saudi-Arabien berichtet hätten. "In den letzten Jahren hat es einen deutlichen Wandel gegeben. Früher waren die Leute sehr skeptisch, aber jetzt kommen sie und setzen sich mit dem Land auseinander."
Proctor führt dies vor allem auf die zahlreichen kulturellen Aktivitäten im Königreich zurück: "Die saudische Strategie zielt nicht nur darauf ab, die Arbeit saudischer Künstler aufzuwerten und durch Kunst und Kultur mehr für die Bildung der saudischen Bevölkerung zu tun", sagt sie. Das Land lädt auch internationale Künstler nach Saudi-Arabien ein. So entsteht ein echter interkultureller Dialog. Ich glaube, er hat zu diesem internationalen Wandel in der Kunstwelt beigetragen.“
Die internationale Kunstszene beginnt, Saudi-Arabien als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten wahrzunehmen. Allerdings innerhalb der Grenzen dessen, was in einem Land möglich ist, das sich in Bezug auf Gesetze, Rechte und Kultur bewusst nicht an den Westen anpassen will, aber sehr wohl an dessen Kunstbetrieb teilhaben möchte.
Gerade das Bestreben Saudi-Arabiens, in die globale Wirtschaft und die Kunstwelt einzutreten, könnte dazu führen, dass inakzeptable Verhaltensweisen und Praktiken im Land verschwinden. Auf der anderen Seite geht die westliche Kunstwelt Kompromisse ein, in der Hoffnung, dass sich das Land zunehmend an humanistischen Werten orientiert.
"Angesichts der Tatsache, dass der Kunstwelt anderswo die Mittel ausgehen, liegt es nahe, sich an diejenigen zu wenden, die noch daran glauben, dass Kunst etwas verändern kann", sagt eine Besucherin. "Die Saudis sind dabei, ihre Einstellung zu ändern. Kultur verändert ihren Blick auf die Welt und eröffnet ihnen neue Perspektiven."
Eine völlig neue Erfahrung
Einige einheimische Künstler sind sich der Kluft zwischen der Situation in Saudi-Arabien noch vor wenigen Jahren und heute sehr wohl bewusst. Die Kunstwerke auf der Desert X thematisieren dies zwar nicht ausdrücklich, aber alle Künstler sind unweigerlich von dieser völlig neuen Erfahrung in ihrem eigenen Land und einer beispiellosen Offenheit berührt.
“Als Kind, das im 'alten Saudi-Arabien' aufwuchs, hörte ich viele Geschichten über die Dschinn, jene mythologischen Wesen, die in Wüstengebieten wie Al-Ula leben und die Gestalt einer Schlange annehmen können", erzählt die Multi-Media-Künstlerin Filwa Nazer aus Jeddah, während sie vor ihrem Werk steht – einer Brücke mitten im Nirgendwo, inspiriert vom Körper eines versteinerten Schlangenskeletts.
"Besucher, die sich dieser Brücke in Form einer Schlange nähern, sollen das Gefühl haben, sich auf eine Reise durch die Schatten zu begeben", erklärt die Künstlerin. "Sie ist eine Metapher für die Überwindung der Dunkelheit."
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