Verstärkte Reislamisierung bestätigt sich nicht

"Franzosen wie die anderen?" Eine Studie des "Centre de recherches politiques de Sciences Po" (Cevipof) räumt mit einigen gängigen Klischees über Muslime mit Migrationshintergrund auf.

Von Bernhard Schmid

Seit vergangenem Sommer wurde die Studie in 20 Exemplaren an die Presse und an Regierungsstellen verbreitet. Darin stellen die Forscher Ergebnisse über das politische Verhalten und die gesellschaftlichen Wertvorstellungen der in Frankreich lebenden Muslime vor.

Die Auswahl der Bezugsgruppe – Immigranten erster, zweiter und dritter Generation aus Herkunftsländern im Maghreb, in Westafrika und aus der Türkei – lässt erkennen, dass es sich dabei um Einwanderer oder deren Nachfahren mit muslimischem Hintergrund handeln soll.

Die Zugehörigkeit zum Islam wird zwar durch die Urheber der Studie nicht explizit ausgewiesen, bildet aber offenkundig den Hintergrund für mehrere der behandelten Fragen.

Alle Befragte sind französische Staatsbürger – insgesamt 1.003 Personen, die den genannten Kriterien entsprechen und aus einer größeren Vorauswahl als "repräsentativ" ausgesucht worden sind.

Die Erhebung fand im April und Mai 2005 statt. Als Vergleichsgruppe wurden auch 1.006 Franzosen und Französinnen ohne Migrationshintergrund befragt.

Vorurteile auf dem Prüfstand

Co-Autor Vincent Tiberj gibt an, dass die umfangreiche Studie einige "vorgefertigte Urteile in Frage stellt". Und tatsächlich stellt sie zahlreiche Vorurteile auf den Prüfstand. So bestätigten die Ergebnisse die in letzter Zeit zunehmenden Vorstellungen von einer "sich verstärkenden Reislamisierung" nicht.

20 Prozent der befragten Franzosen migrantisch-muslimischer Herkunft geben in der Untersuchung von vornherein an, sie verstünden sich als Staatsbürger "ohne Religionszugehörigkeit".

Von denen, die sich zum Islam bekennen, geben 21 Prozent an, regelmäßig, d.h. ein bis zwei Mal im Monat, in eine Moschee zu gehen. Nur fünf Prozent erklärten, ihr Kind "in eine private Koranschule schicken" zu wollen.

Auf der anderen Seite sagten 80 Prozent der befragten Muslime aus, den Fastenmonat Ramadan einzuhalten, was eine zu beobachtende Realität ist – insbesondere bei der jüngeren Generation gegenüber ihren Eltern, aber auch als Ausdruck eines sozialen Zugehörigkeitswillens zu einer Gruppe zu verstehen ist.

Schwächere Bindung an Glaubensinstitutionen im Alltag

81 Prozent erklärten, einmal im Leben nach Mekka pilgern zu wollen. Dies lässt deutlich werden, dass an den stärksten Identifikationssymbolen festgehalten wird, im Alltag jedoch eine schwächere Bindung an die Glaubensinstitutionen vorherrscht.

Diese Zahlen decken sich übrigens weitgehend mit denen der letzten größeren Studie über Muslime in Frankreich, die im September 2001 im Auftrag der Pariser Abendzeitung "Le Monde" durchgeführt wurde. Damals erklärten ebenfalls 21 Prozent der Befragten – Einwohner Frankreichs mit muslimischem Hintergrund – regelmäßig eine Moschee zu besuchen.

21 Prozent erklärten, nicht gläubig zu sein oder Muslim lediglich aus Familientradition zu sein, 42 Prozent bezeichneten sich als gläubig, ohne den Glauben zu praktizieren und 36 Prozent als "gläubig und den Glauben praktizierend".

Auf der Ebene der gesellschaftlichen Wertvorstellungen erklären 65 Prozent der Befragten, kein Problem damit zu haben, wenn eines ihrer eigenen Kinder einen nicht-muslimischen Partner heiraten würde. Allerdings waren 39 Prozent nicht Ansicht, dass Homosexualität "eine akzeptable Form darstelle, Sexualität zu leben".

Gegenüber der jüdischen Bevölkerung bestehen stärkere Vorurteile und Abneigungen unter der befragten muslimischen Bezugsgruppe: 39 Prozent stimmten der Aussage zu, die Juden hätten "zu viel Macht in Frankreich".

Diese bedenkenswerte Erscheinung sei aber nicht unbedingt identisch mit Antisemitismus, sondern stelle auch Ausdruck einer "Konkurrenz unter den Minderheiten um gesellschaftliche Anerkennung", dar.

So würde ein Teil der Einwanderer und ihrer Nachfahren den Juden ihren Status als vermeintlich anerkannte Minderheit vorwerfen, die angeblich den Opferstatus und das Schutzbedürfnis gegen Diskriminierung für sich monopolisiere.

Was ihr Verhältnis zu politischen Kräften in Frankreich betrifft, so tendieren muslimische Franzosen mit Migrationshintergrund mehr zu den verschiedenen Linksparteien als die "Abstammungsfranzosen". So erklärten 76 Prozent einer der Linksparteien (Sozialdemokraten, KP, Trotzkisten) von den Ideen her "nahe zu stehen". Die Hauptursache dafür dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass ein großer Teil dieser Muslime als Arbeiter und Angestellte tätig ist.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2005

Qantara.de

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Die Studie "Franzosen wie die anderen?" finden Sie auf Französisch auf den Seiten des "Centre de recherches politiques de Sciences Po" (Cevipof)