Selbstmordattentate ursprünglich nicht islamistisch

Mit der Serie von Selbstmordattentaten im Nahen Osten ist der Eindruck entstanden, diese Waffe habe islamistische Ursprünge. Ein Irrtum.

Von Joseph Croitoru

Wie die Geschichte des Selbstmordattentates zeigt, ist diese Waffe anfänglich nicht von religiösen Terrorgruppen eingesetzt worden. Im Gegenteil: die ersten Attentate dieser Art wurden von säkular-marxistisch orientierten Terrorzellen eingesetzt.

Bereits in den siebziger Jahren, lange etwa vor den Selbstmordterroristen der libanesisch-schiitischen Hizbullah, wurden auf israelischem Staatsgebiet von palästinensischen Fedayin Selbstmordanschläge verübt. Es war die vom Libanon aus operierende palästinensische Kampforganisation „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP), die 1972 den ersten Schritt zur Einführung dieser Waffe unternommen hatte.

Japanische Rote Armee verübt Anschläge in Nahost

Ihre Verbindungen zu Nordkorea führten zu einer Zusammenarbeit mit der Terrororganisation „Japanische Rote Armee“ (JRA), die ebenfalls Kontakte zu den Nordkoreanern unterhielt. Aus der Kooperation dieser beiden marxistisch-antiimperialistisch ausgerichteten Organisationen resultierte schließlich das erste, eher improvisierte Selbstmordattentat, als drei Mitglieder der JRA am 30. Mai 1972 auf dem israelischen Flughafen Lod ein verheerendes Blutbad an Zivilisten anrichteten.

Die Angreifer, die nach der Tat keinerlei Anstalten machten zu fliehen, hatten den Anschlag von Anfang an als Todesmission geplant: Einer wurde durch israelische Schüsse niedergestreckt, der zweite sprengte sich mit einer Handgranate selbst in die Luft, während es den dritten festzunehmen gelang, ehe er sich töten konnte.

Es war jedoch nicht nur die von den Attentätern verinnerlichte Erfahrung der Kamikaze-Angriffe ihrer Landsleute im Zweiten Weltkrieg, die sie zu ihrer tödlichen Mission inspiriert hatte. Die drei japanischen Terroristen hatten für diesen Todeseinsatz in einem Trainingslager im Libanon eine Spezialausbildung erhalten, an der allem Anschein nach auch nordkoreanischen Militärexperten beteiligt waren.

Selbstmordangriff von Japan über Nordkorea exportiert

Für den Transfer der Methode des Selbstmordangriffs vom Fernen in den Nahen Osten spielte also offenbar Nordkorea die zentrale Rolle. Im Zweiten Weltkrieg waren unter japanischer Flagge Koreaner zu Kamikaze-Einsätzen gezwungen worden, und Überlebende dieser Missionen hatten das diesbezügliche Know-how weiter tradiert: Im nach wie vor kommunistisch regierten Nordkorea wird der nationale Heldenkult um die eigenen Selbstmordsoldaten, die die Nation jederzeit im Geiste der „lebenden Bomben“ (human bombs) zu verteidigen bereit sind, bis heute gepflegt.

Das Massaker von Lod, mit dem der gegen militärische Ziele eingesetzte Selbstmordangriff zum vorsätzlich gegen Zivilisten gerichteten Selbstmordattentat mutierte, hatte für die palästinensischen Terrororganisationen allerdings einen unerwarteten Nebeneffekt. Diese wurden von japanischer Seite nun mit dem Vorwurf konfrontiert, die Japaner für die arabische Sache benutzt zu haben. Und bei aller Freude in der arabischen Welt über den Erfolg dieser Terroraktion hielt der libysche Präsident Qadaffi den Palästinensern vor, zu Todesmissionen wie dieser selbst nicht imstande zu sein.

Es dürfte wohl eine Mischung aus gekränkter Ehre und terroristischem Kalkül gewesen sein, die den Ausschlag gab, dass nur zwei Jahre später mehrere palästinensische Kampforganisationen Todeskommandos auf den Weg schickten und dabei die Selbstsprengung zum Pflichtprogramm machten. Die erste dieser Gruppen war die von Ahmad Dschibril geführte „Volksfront für die Befreiung Palästinas – Generalkommando“ (PFLP-GC), die sich einige Jahre zuvor von der PFLP abgespalten und mit dieser seitdem konkurriert hatte.

Syriens Beziehungen zu Nordkorea

Von Syrien, das damals wie heute enge Beziehungen zu Nordkorea pflegte, unterstützt, schickte die marxistisch orientierte PFLP-GC am 11. April 1974 ihre ersten drei Selbstmordattentäter auf den Weg. Von ihren Auftraggebern instruiert, sich in die Luft zu sprengen, falls die geplante Geiselnahme nicht den gewünschten Erfolg zeitigen sollte, drangen die mit Sprengsätzen ausgestatteten Angreifer in das nordisraelische Städtchen Kiryat Shmona ein und richteten dort ein blutiges Gemetzel an.

Israelischen Angaben zufolge sei es bei diesem Überfall allerdings nie zu einer Geiselnahme gekommen. Die Täter jedenfalls feuerten wahllos auf Passanten, drangen in einen Wohnblock ein, wo sie ebenfalls mehrere Menschen töteten, und verschanzten sich schließlich dort im obersten Geschoss. Als israelische Soldaten das Gebäude stürmten, kam es zu einer Explosion, bei der die Terroristen ums Leben kamen.

Bis heute hält die PFLP-GC hartnäckig an der Version fest, ihre Männer hätten sich in die Luft gesprengt, während die Israelis behaupten, eines ihrer Geschosse habe die Explosion ausgelöst.

Mediale Inszenierung des Märtyrertodes

Wie dem auch sei: Richtungweisend jedenfalls für den weiteren Verlauf der Geschichte des Selbstmordattentats war hier nicht nur das Muster der Selbstsprengung, sondern auch die zum ersten Mal medial inszenierte Verabschiedung der Täter. Was letztere anbelangt, orientierten sich die Palästinenser eindeutig an den Abschiedsinszenierungen der japanischen Kamikaze-Piloten und entwickelten diese weiter.

In einem Film wurden die letzten Tage der Attentäter dokumentiert und ihre Vermächtnisse auch auf Tonband aufgezeichnet, um sie dann auf einer unmittelbar nach dem Anschlag von der Organisation veranstalteten Pressekonferenz zusammen mit Abschiedsfotos publik zu machen. Der Anschlag von Kiryat Shmona löste eine lange Reihe von Selbstmordanschlägen aus, die von verschiedenen miteinander rivalisierenden palästinensischen Kampforganisationen mit steigender Brutalität verübt wurden.

Das erklärte politische Ziel dieser Attentate war es, Kompromisslosigkeit und Unnachgiebigkeit gegenüber dem israelischen Gegner zu signalisieren. Dies ging mit der strikten Ablehnung jedweder Annäherung an Israel einher, die um die Mitte der siebziger Jahre insbesondere von Yassir Arafat angestrebt wurde. Tatsächlich trugen die Selbstmordanschläge zur Radikalisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts bei, da die bis dahin beispiellose Brutalität der Attentäter immer härtere Vergeltungsschläge der Israelis nach sich zog.

Und Arafats palästinensischen Widersachern war es so schließlich gelungen, die Fatah, die auch weiterhin ihren Führungsanspruch zu behaupten versuchte, zum Verüben von Selbstmordanschlägen zu veranlassen.

Märtyrertod für politische Zwecke instrumentalisiert

Die Selbstmordattentäter der siebziger Jahre traten offiziell zwar als Säkulare auf, wurden von ihren Auftraggebern jedoch als Schuhada, als islamische Märtyrer, gefeiert. Die säkularen Kampforganisationen instrumentalisierten so auf geschickte Weise die religiöse Tradition des islamischen Kriegermartyriums, ohne sie jedoch als rein religiös präsentieren zu müssen. So war in den Testamenten der Attentäter vom Paradies mit seinen traditionellen Belohnungen für den islamischen Märtyrer zwar nicht explizit die Rede, ihren Abschiedsworten jedoch war deutlich zu entnehmen, dass auch sie an ein Weiterleben im Jenseits glaubten.

Erst mit den Selbstmordanschlägen der Hizbullah Anfang der achtziger Jahre im Libanon, die die palästinensischen Selbstmordattentate der siebziger Jahre zum Vorbild genommen und nun durch den Einsatz von Autobomben weiterentwickelt hatte, kam es zur Verschmelzung von Religion und Selbstmordattentat.

Islamischer Glaube verbietet den Selbstmord

Die entscheidende Erneuerung der Hizbullah war die Einführung der Wortkreation „amaliya istishhadiya“ (Märtyrertod-Operation), die den säkularen Terminus der Palästinenser-Organisationen „amaliya intihariya“ (Selbstmord-Operation) abgelöst hatte. Doch zur Formulierung einer „Theologie“ des Selbstmordterrorismus, mit der das Selbstmordverbot im Islam offiziell hätte umgangen werden können, war es bei der Hizbullah, die auch ohne eindeutige theologische Rechtfertigung den schiitischen Märtyrerkult geschickt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren verstand, nicht gekommen: Daran versuchte sich erst Mitte der neunziger Jahre die palästinensischen Hamas.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2004