„Ohne Friedensvision hält die Waffenruhe nicht“
Qantara: Wenn über die Zukunft Palästinas diskutiert wird, scheint es oft, als hinge alles von Israel ab, von Donald Trump und der arabischen Welt – im Besonderen Saudi-Arabien. Doch was ist mit Palästinenser:innen? Was können Sie uns als Umfrageexperte über deren Präferenzen berichten?
Khalil Shikaki: Palästinenser:innen wollen eine dauerhafte Befriedung des Konflikts mit Israel. Der Waffenstillstand ist nur der Anfang. Sie wollen, dass alle Verhandlungen im Gazastreifen Teil der umfassenderen Bemühungen zur Beendigung des Konflikts und der israelischen Besatzung sind. Sie wollen, dass Übergangsregelungen getroffen werden, die Teil einer umfassenden Vision für den Frieden sind.
Meiner Meinung nach sollte dieser Frieden auf einer Zweistaatenlösung beruhen. Obwohl diese derzeit nicht von einer Mehrheit unterstützt wird, bin ich mir sicher, dass die Palästinenser:innen eine Zweistaatenlösung annehmen würden, vorausgesetzt diese wäre so definiert, dass sie den grundlegenden Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung entspricht.
Der Weg zu einer neuen Übergangsverwaltung im Gazastreifen ist noch unklar. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) behauptet, sie sei bereit, die volle Verantwortung im Nachkriegs-Gaza zu übernehmen, was die israelische Regierung ablehnt. Wie sollte es weitergehen?
Die derzeitige Regierungskoalition in Israel ist nicht bereit, eine Übergangsregelung für den Gazastreifen zu akzeptieren, der die Palästinenser:innen zustimmen könnten. Es ist auch klar, dass die derzeitige palästinensische Führung in der palästinensischen Öffentlichkeit kein Vertrauen genießt.
Die PA wird nicht als legitime Autorität angesehen – seit 2006 hat es keine Parlamentswahlen mehr gegeben, und die Amtszeit von Mahmoud Abbas als Präsident ist nach geltendem Recht schon seit mehr als fünfzehn Jahren abgelaufen.
Die Schwierigkeit für die PA besteht darin, dass sie nur auf Basis eines Abkommens mit der Hamas die Kontrolle in Gaza übernehmen kann. Ein Abkommen ist nur dann wahrscheinlich, wenn es eine definierte Übergangsphase gibt und klar ist, wie es danach weitergeht. Die PA hat nicht die Macht, sich gegen den Willen der Hamas durchzusetzen.
Die meisten Palästinenser:innen wollen eine Übergangsregelung, die zumindest zu Wahlen führen könnte. Doch keine Regelung ist tragfähig, wenn sie nicht Teil einer größeren Vision ist, die mit einer Zweistaatenlösung und regionalem Frieden endet. Ohne eine solche Vision bezweifle ich, dass die Waffenruhe von Dauer sein wird.
Warnung an meine Brüder und Schwestern
Wir Palästinenser*innen haben das Recht, uns gegen Israels Besatzung zu wehren. Der Hamas folgen muss man deshalb noch lange nicht, denn sie hat uns der systematischen Vernichtung ausgesetzt. Was wir brauchen, ist ein alternatives Nationalnarrativ.
Glauben Sie, dass die Hamas in Gaza weiter eine Rolle spielen wird?
Solange es keine Einigung mit anderen palästinensischen Gruppierungen über die Verwaltung des Gazastreifens gibt, wird die Hamas weiter ihre eigene Kontrolle ausüben. Daran besteht kein Zweifel.
Die Frage ist jedoch: Wie kann man die Hamas entwaffnen? Selbst wenn sie einer technokratischen Übergangsregierung für Gaza zustimmt, wird sie eine Entwaffnung ohne klare Vision für eine Zweistaatenlösung nicht ermöglichen – eine Vision, auf die sich Palästinenser:innen und Israelis einlassen können und die einen Weg zur Errichtung eines palästinensischen Staates aufzeigt.
Die palästinensischen Kräfte, einschließlich der Hamas, sind sich einig, dass Folgendes nötig ist: Übergangsregelungen, ein starker Premierminister, Kontrolle des Gazastreifens durch nicht-politische Institutionen und Wahlen in zwei oder drei Jahren, um den Wiederaufbauprozess einzuleiten.
Erwarten Sie, dass die Popularität der Hamas jetzt, da ein Waffenstillstand besteht, abnimmt?
Im Moment nimmt die Popularität der Hamas nicht ab, sie steigt wahrscheinlich sogar. Das ist aber nur ein vorübergehender Trend. Viele Menschen in Gaza und im Westjordanland unterstützen die Hamas, ungeachtet dessen, wie sie den Ausgang des Krieges interpretieren – aber es ist die Minderheit, vielleicht 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung von Gaza.
Im Westjordanland hat die Unterstützung für die Hamas zugenommen, diese ist aber eher emotionaler Natur, als dass sie sich auf gemeinsame Werte stützt. Wir gehen davon aus, dass die Popularität der Hamas im Westjordanland wieder das Vorkriegsniveau erreichen wird, das bei etwa 20 Prozent lag.
2006 wurde die Hamas mit 44 Prozent der Wählerstimmen im Gazastreifen gewählt. In keiner unserer Umfragen seither hat sie dieses Niveau wieder erreicht. Sollte es zu einem Frieden zwischen Palästina und Israel kommen, wird die Unterstützung für die Hamas wahrscheinlich weiter zurückgehen.
Wer könnte eine Übergangsbehörde in Gaza leiten?
Ich habe keinen konkreten Namen. Darauf müssen sich die Fatah, die Hamas und andere Gruppierungen einigen. Es sollte jemand sein, der von der Mehrheit der palästinensischen Öffentlichkeit respektiert wird. Eine Person, die als frei von Korruption gilt. In jedem Fall keine autoritäre Figur oder etablierte politische Persönlichkeit.
Die Herausforderungen, vor denen Gaza steht, erfordern eine mutige Führung. Doch Marwan Barghouti, das populärste Fatah-Mitglied, sitzt in Israel im Gefängnis. Mohammed Dahlan und Nasser Kidwa, die noch eine politische Basis in Gaza haben, sind aus den Fatah-Kreisen in Ramallah ausgeschlossen worden. Gibt es eine Krise in der palästinensischen Führungsriege?
Diese Leute sind Persönlichkeiten der Politik. Für die Übergangsregelung sind sie nicht die Richtigen. Barghouti könnte zum Beispiel bei den Präsidentschaftswahlen nach der Übergangsphase antreten. Diese muss von einer Person gestaltet werden, die unabhängig von ihrem Namen Akzeptanz und Legitimität genießt, allein weil ihre Ernennung das Ergebnis eines palästinensischen Konsenses sein wird.
Nur so wird sie zu einer Autorität, die eine Übergangsregierung formen und mit der internationalen Gemeinschaft verhandeln kann, um den Wiederaufbau anzugehen und die Wahlen vorzubereiten. Wir haben im Moment kein Parlament, aber ein solcher Konsens könnte in den Augen der Öffentlichkeit eine legitime Alternative darstellen, sofern er schließlich zu Wahlen führt.
Also sind Wahlen der Schlüssel zum Erfolg?
Absolut. Wenn unsere Politiker:innen nicht gewählt sind, haben sie keine Legitimität, um so etwas Wichtiges und Dauerhaftes zu verhandeln wie ein Friedensabkommen.
Skeptischer Optimismus am Golf
Saudi-Arabien und die Emirate versprechen sich von der Trump-Präsidentschaft gute Geschäfte, haben aber gelernt, dass politisch kein Verlass ist auf die USA. Derweil könnten die Saudis Trump zu einer härteren Gangart gegenüber Israel drängen.
Netanjahu ist derzeit bei Trump in Washington. Die beiden könnten sich in einer Sackgasse befinden – Trump sieht den Waffenstillstand in Gaza als seinen Erfolg an und will, dass er hält, Netanjahu und seine rechten Verbündeten könnten darauf drängen, den Krieg vor der zweiten Phase des Waffenstillstands wieder aufzunehmen. Wird Trump als Zugeständnis an die israelische Rechte grünes Licht für die Annexionspläne im Westjordanland geben?
Damit würde er seine eigenen Errungenschaften aufs Spiel setzen – insbesondere die Abraham-Abkommen [Vereinbarungen aus dem Jahr 2020 zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten] und den saudischen Normalisierungsprozess.
Eines von Trumps Zielen wird es sein, das, was er in seiner ersten Amtszeit erreicht hat, weiter auszubauen. Das würde bedeuten, dass er sich zumindest verbal auf den Versuch konzentrieren müsste, die saudischen Forderungen für eine Normalisierung zu erfüllen – ein Engagement für einen zukünftigen palästinensischen Staat ist möglicherweise Teil der saudischen Bedingungen.
Gleichzeitig sage ich nicht unbedingt, dass Trump Druck auf die Israelis ausüben wird. Wir müssen erst herausfinden, wie weit Trump zu gehen bereit ist. Ich bin nicht sehr optimistisch, dass die USA Netanjahu so unter Druck setzen, dass er einer Zweistaatenlösung zustimmt, die den palästinensischen Bedürfnissen gerecht wird.
(K)ein Konsens zwischen Trump und Netanjahu
Trump könnte der israelischen Regierung noch mehr Freiheiten gewähren, um ihre Gebietsansprüche und politischen Ambitionen in Palästina, Syrien und im Libanon zu verfolgen. Die Zukunft des Waffenstillstands im Gazastreifen hängt derweil in der Schwebe.
Trump hat vorgeschlagen, eineinhalb Millionen Menschen aus Gaza nach Ägypten oder Jordanien umzusiedeln. Wie ernst sollten wir das nehmen?
Ich glaube nicht, dass Trump weiß, wovon er spricht. Das würde die Friedensverträge Israels mit Jordanien und Ägypten zunichtemachen. Diese Länder wehren sich mit Händen und Füßen gegen die Idee, Palästinenser:innen bei sich anzusiedeln. Jordanien und Ägypten sind zwei der wichtigsten US-Verbündeten in der Region. Es wäre äußerst destabilisierend.
Die israelische Rechte reagierte begeistert. Persönlichkeiten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir begrüßten den Vorschlag als einen Schritt zur Neubesiedlung des Gazastreifens.
Sicher, diesen Extremisten ist die Zukunft Jordaniens egal. Sie wollen, dass das Land die neue Heimat des palästinensischen Volkes wird. Es würde ihnen nichts ausmachen, wenn Jordanien zusammenbräche, wenn sie dadurch die Palästinenser:innen im Westjordanland loswerden könnten. Wenn sie die Menschen aus Gaza in den Sinai drängen könnten, wäre ihnen auch der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten egal.
Wann planen Sie die nächsten Umfragen in Gaza?
Wir hoffen, bald eine durchführen zu können. Aber für eine repräsentative Stichprobe müssen wir wissen, wo sich die Bevölkerung aufhält. Im Moment ziehen die Menschen von einem Ort zum anderen. Wo werden sie sich niederlassen? Werden sie in ihre Häuser zurückkehren, auch wenn diese zerstört wurden? Werden sie in neue Unterkünfte gebracht? In diesem Fall könnten wir herausfinden, wie viele Menschen in diesen Unterkünften leben, eine Stichprobe bilden und mit Interviews beginnen.
Ich glaube immer noch nicht daran, dass der Waffenstillstand hält. Aber wenn er in den nächsten Wochen stabil ist, sollten wir in der Lage sein, sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland eine neue Erhebung durchzuführen.
Glauben Sie immer noch, dass sich aus „den Schrecken des 7. Oktobers und des darauffolgenden Krieges eine bessere Zukunft für Palästinenser:innen und Israelis gleichermaßen entwickeln wird“? Ich zitiere aus Ihrer jüngsten Veröffentlichung mit Abdel Monem Said und Shai Feldman.
Das spiegelt unsere Hoffnungen wider. Wir glauben, dass es nicht unmöglich ist. Wir glauben, dass der 7. Oktober und der Krieg in Gaza für Palästinenser:innen und Israelis eine ausreichende Motivation darstellen, den Konflikt hinter sich zu lassen und nach vorn zu schauen.
Wenn die Menschen zum Schluss kommen, dass dieser Konflikt beendet werden muss, müssen sie Opfer bringen. Sie müssen sich gegenseitig Zugeständnisse machen.
Wir erwarten nicht, dass die derzeitige israelische Führung dies tut, und wir halten auch die derzeitige palästinensische Führung nicht für fähig, eine solche Richtung einzuschlagen. Aber wir glauben, dass die palästinensische Öffentlichkeit sowohl interessiert als auch willens ist.
Dies ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.
© Qantara.de