Türkische Musliminnen als Muftis?
Eine Nachricht aus Südindien brachte den Stein ins Rollen: In der Stadt Haidarabad, war drei muslimischen Frauen die Ernennung zum Mufti gelungen. Ab September 2003 standen sie als erste weibliche Religionsbeauftragte des Islam, als sogenannte "Muftiyye", ihrer Gemeinde zur Verfügung.
Ihre Kompetenz hatten die Frauen an der islamischen Fakultät in Haidarabad erworben. Anwar Muazzam, Ex-Dekan ihrer Fakultät der Osmaniyya-Universität, sagte dem britischen Sender BBC: "Es gibt keinen einzigen Koranvers und keinen einzigen Hadith, dass Frauen nicht Mufti werden dürfen."
Aischa als Vorbild
Muazzam erinnerte daran, dass Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, nach seinem Tod zu einer religiösen Autorität wurde und der Gemeinde zur Verfügung stand. "Es gibt im Islam weibliche Gelehrte, warum soll es keine weiblichen Muftis geben?" fragte der indische Theologe.
Diese Nachrichten leiten nun in der Türkei, dem am stärksten säkularisierten muslimischen Land, entsprechende Reformen ein. So sollen bald Frauen stellvertretende Muftis werden dürfen. Die Türkei gehörte bis jetzt zu den Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung, wo Frauen nicht für höhere theologische Ämter vorgesehen sind.
Aber Muftis sind mitunter die wichtigsten Religionsbeauftragten im Islam, der keinen Klerus kennt: Sie sind in jeder Kleinstadt präsent und erstellen Fatwas (religiöse Gutachten), nach denen sich die Gemeinde richtet. Das macht sie zu den fast wichtigsten Autoritäten in jeder Gemeinde, wie klein oder groß sie auch sein mag.
Die türkischen Theologen sind allesamt Staatsbeamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes und werden vom "Amt für Religiöse Angelegenheiten" (Diyanet İsleri Baskanlıgı oder kurz Diyanet) eingestellt. Ein Staatsminister im türkischen Kabinett überwacht dieses Amt mit seinen nahezu 80.000 Beschäftigten , davon 74.368 Männer und nur 2616 Frauen.
Ali Bardakoglu heißt der Präsident des Amtes, der seit eineinhalb Jahren das Diyanet-Personal betreut und über ein Etat von ca. 623 Millionen Euro verfügt.
Davon wird in der Türkei alles bezahlt: Von der Stromrechnung der Moschee an der armenischen Grenze bis zum Gehalt des Imams in Berlin. Diyanet betreut die türkischen Muslime weltweit und unterhält in allen größeren Städten Deutschlands Attachés, Muftis und Imame. In der Türkei selbst werden die Muftis mit Fatwa-Vollmachten in 81 Städten und zahllosen Bezirken eingesetzt.
Anpassung an zeitgemäße Standards
Bardakoglu, der im November 2002 von der neu gewählten moderat islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) ernannt wurde, befürwortet die Einstellung von Frauen als stellvertetende Muftis.
Es sei die Aufgabe seines Amtes, die Bevölkerung über Glaubensfragen aufzuklären, sagt der Diyanet-Präsident und fügt hinzu: "Wir brauchen moderne, aufgeklärte Religionsbeauftragte."
Ob er sich auch Frauen in bisherigen Männerpositionen vorstellen kann? "Die Botschaft der Religion unterscheidet niemals zwischen Geschlechtern oder Klassen", sagt Bardakoglu, "der Koran bringt die Gleichheit der Geschlechter schon vor 14 Jahrhunderten zum Ausdruck."
Aber in der Praxis islamischer Gesellschaften hätte es de facto "immer ein Frauenproblem" gegeben, das von Tradition geprägt worden sei: "Ehrenmorde, Diskriminierung, Gewalt in der Familie, Ausschluss der Mädchen von Bildung" seien Praktiken, die niemals durch den Glauben legitimiert werden könnten.
Auf die Frage, ob Frauen Muftis werden können, antwortet der Präsident der höchsten türkischen Religionsbehörde: "Es hindert Frauen nicht davor, Religionsbeauftragte zu werden. In der islamischen Geschichte haben Frauen stets in lehrenden Positionen gearbeitet. Aber in unserer Kultur und jüngeren Geschichte hat keine Frau je das Amt eines Muftis bekleidet, die Fatwas erlassen darf und leitende Funktionen ausübt. Aber wir planen, angefangen bei den Grosstädten, Frauen als stellvertretende Muftis einzusetzen."
Mufti-Vertreterin mit Fatwa-Kompetentz
Bei diesen Worten beließ es Bardakoglu jedoch nicht, sondern ließ daraufhin eine entsprechende Satzungsänderung vorbereiten, die im Herbst in Kraft treten soll. Die Zehn-Millionen-Metropole Istanbul wird die erste Stadt mit einer Mufti-Vertreterin sein.
Dass diese nur Frauen beraten werden, mag als Einschränkung erscheinen. Aber der kleine Schritt auf örtlicher Ebene wird für den Islam insgesamt einen grossen Sprung bedeuten: Frauen in leitenden religiösen Ämtern werden in Istanbul, Ankara, Berlin oder Paris erstmals Fatwas zu Frauenangelegenheiten erlassen.
Sie werden für Frauenbelange selbstverständlich ein ganz anderes Ohr haben und beispielsweise auch den Mädchen helfen können, die zwischen Tradition und Moderne zerrieben werden oder den Frauen, die oft nicht aus dem Teufelskreis der Gewalt in der Familie ausbrechen können.
Es werden nicht mehr nur Männer über Frauen richten und sagen, wie sie sich verhalten müssen, wenn sie z.B. die Menstruation haben oder wenn sie in den Wechseljahren sind. Damit werden sie an eine Tradition anknüpfen, die zu Lebzeiten des Propheten lebendig war.
Nach einer authentischen Überlieferung ("sahih hadith") kam eines Tages eine Gruppe von Frauen zum Propheten und fragten ihn, wie sich sich am besten waschen sollte. Der Prophet drehte sich daraufhin zu seiner Frau Aischa und sagte: "Erkläre du es ihnen."
Dilek Zaptcioglu © Qantara.de 2004