Frauen auf dem Vormarsch
"Ich bin aus meinem Schneckenhaus ausgebrochen. Niemand kann mich je wieder dorthin zurückschicken!“ Als ich das hörte, schossen mir Freudentränen in die Augen. Wochenlang war ich zusammen mit anderen Trainerinnen von Stadt zu Stadt, quer durch die Türkei, gereist, um an zwei verschiedenen Projekten zu arbeiten. Beide Projekte hatten das gleiche Ziel: mehr Frauen in die Politik zu bringen.
Rund 60 Millionen Türkinnen und Türken werden am 31. März bei den Kommunalwahlen ihre Stimme abgeben. Mehr als 100.000 Bürgermeister, Gemeinderäte und Ortsvorsteher stehen zur Wahl. Wir hoffen, dass mindestens die Hälfte dieser Sitze an Frauen geht.
Die junge Frau Ende 20, die sagte, sie sei aus ihrem Schneckenhaus ausgebrochen, möchte ihre eigene Welt und ihre Umgebung zum Besseren verändern. Anfangs, so sagte sie, sei sie sich nicht sicher gewesen, ob sie in die Politik gehen soll. Sie hat an unserem Trainingsprogramm teilgenommen, um herauszufinden, ob sie sich die politische Arbeit zutraut. Nach dem Training stand ihr Entschluss fest: "Ja, ich kann das“, sagte sie.
Gegen Ende des Trainings waren wir, die Trainerinnen und Trainer, ziemlich erschöpft. Aber angesichts der vielen Frauen, die sich mit Entschlossenheit und Enthusiasmus für mehr Frauen in der türkischen Politik einsetzten, war es die Mühe wert.
Eines der Projekte wurde von der zivilgesellschaftlichen Organisation KA.DER durchgeführt. Diese setzt sich dafür ein, mehr Frauen in Positionen zu bringen, in denen die Entscheider gewählt werden.
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Von Wahlsystem bis Rhetorik
KA.DER wurde 1997 gegründet, um mithilfe von politischer Bildung speziell für Frauen ihre Kandidatur für politische Ämter zu fördern und gleichzeitig die Öffentlichkeit für eine paritätische Vertretung der Geschlechter in diesen Ämtern zu sensibilisieren. Weitere Projektpartner waren UN Women Turkey und die Swedish International Development Cooperation Agency (Sida).
Das andere Projekt wurde von We Act organisiert, einer gemeinsamen Initiative von Daktilo1984, einer lokalen akademischen Plattform, und ALDA, einem europäischen Verein zur Förderung der lokalen Demokratie in einem erweiterten Europa. Ihr Projekt zur Förderung von Politikerinnen wurde auch von der EU-Delegation in der Türkei finanziert.
Die Veranstaltungen fanden seit Dezember 2023 in mehreren türkischen Städten statt. Mehr als 600 Frauen nahmen an den Trainings teil. Themen waren das türkische Wahlsystem, die Dynamik der politischen Parteien, Kommunikationsstrategien, Reden und Rhetorik sowie die Wahlkampfführung.
Beide Projekte dauerten jeweils vier bis fünf Tage. Je nach Programm konnten die Teilnehmerinnen über Details zu Wahlverfahren, Wirtschaft, geschlechtergerechte Haushalte und die effektive Nutzung sozialer Medien diskutieren und mehr darüber lernen.
Ein langer, steiniger Weg
Die Türkei war weltweit eines der ersten Länder, in denen Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten. Es wurde 1934 gewährt, noch vor europäischen Ländern wie Frankreich und Belgien. Doch heute gehört die Türkei in Europa zu den Ländern mit dem niedrigsten Frauenanteil in der politischen Repräsentation und Partizipation.
Bei den Parlamentswahlen im Mai letzten Jahres errangen Frauen nur 121 von insgesamt 600 Sitzen. Das ist zwar weit entfernt von der angestrebten Quote von 50 Prozent, aber immerhin der höchste Anteil von weiblichen Abgeordneten in der modernen Geschichte der Türkei. Dem türkischen Kabinett gehört derzeit nur eine Frau an: Mahinur Özdemir Göktaş, Ministerin für Arbeit, Soziales und Familie.
Auf kommunaler Ebene sieht es noch deutlich düsterer aus. Drei Prozent der Bürgermeister, 6,66 Prozent sind Mitglied der Verwaltungsgremien in den Provinzen und nur zwei Prozent der Bezirksvorsteher sind Frauen.
Der Anteil der Bürgermeisterinnen blieb nach den letzten Kommunalwahlen 2019 auf sehr niedrigem Niveau, trotz eines Anstiegs von 0,8 Prozent auf 3,2 Prozent, was eine deutliche Verbesserung gegenüber den Kommunalwahlen in 2014 bedeutet.
Der Anteil der weiblichen Gemeinderatsmitglieder stieg von 4,2 Prozent auf elf Prozent im Jahr 2019. Die Zahl der Bezirksvorsteherinnen stieg um mehr als 59 Prozent von 674 im Jahr 2014 auf 1070 im Jahr 2019.
Diese Zahlen lassen hoffen, dass Frauen nach den Kommunalwahlen im März 2024 stärker vertreten sein werden.
Keine leichte Aufgabe
Natürlich wissen wir, dass es nicht einfach wird. Die Teilnehmerinnen des Trainingsprogramms haben von uns auch gelernt, dass die Erwartungen der Wähler an weibliche Kandidaten viel höher sind als an Männer, die für die gleichen Ämter kandidieren.
Das ist nicht nur in der Türkei so, sondern weltweit. Für männliche Kandidaten ist zudem die Unterstützung durch die Familie meist kein echtes Problem. Bei den weiblichen Kandidaten sieht es anders aus.
Es gibt jedoch einige Faktoren, die spezifisch für die Türkei sind und die gläserne Decke für Frauen verstärken. Erstens gibt es keine Quotenregelung für Frauen, weder bei den Parlaments- noch bei den Kommunalwahlen – trotz jahrelanger Kampagnen von Frauenrechtsorganisationen.
Zweitens gibt es in der Türkei keine gesetzlichen Vorgaben für die formalen Verfahren zur Auswahl von Kandidaten. In einigen Fällen wird die Meinung der Ortsverbände zur Kandidatenauswahl eingeholt. Die endgültige Entscheidung liegt jedoch immer bei der Parteiführung, die stets männlich besetzt ist.
Die Vorsitzende von KA.DER, Nuray Karaoğlu, erklärte, Frauen seien durchaus bereit zu kandidieren, aber die Parteien wären in dieser Frage sehr zurückhaltend. Es sei ihre Aufgabe als Organisation, die Parteien zu drängen, mehr weibliche Kandidaten zu nominieren und auch die Öffentlichkeit zu ermutigen, mehr weibliche Kandidaten zu fordern.
Der dritte Grund ist die Polarisierung des politischen Klimas in der Türkei. Nachdem die Opposition die Parlamentswahlen im Mai 2023 verloren hat, sieht diese in den Kommunalwahlen eine Chance für einen Sieg.
Sowohl die Opposition als auch die Koalitionsparteien der Regierung zögern daher, weibliche Kandidatinnen zu nominieren, insbesondere für stark umkämpfte Wahlkreise, da sie Frauen schlechtere Chancen einräumen als Männern.
Männerwirtschaft
Einer der Projektleiter, der Politikwissenschaftler Professor Emre Erdoğan von der Istanbuler Bilgi-Universität, wies darauf hin, dass Männer nicht bereit seien, die Vorteile von Klientelwirtschaft auf kommunaler Verwaltungsebene mit Frauen zu teilen.
"Die starke politische Polarisierung führt dazu, dass eine bestimmte Partei in manchen Orten bis zu 70 Prozent der Stimmen erhält. Unabhängig von den Kandidaten werden diese Orte immer von dieser einen Partei erobert. Wenn diese Partei wollte, könnte sie Frauen aufstellen. Aber das passiert nicht“, so der Politikwissenschaftler. Dafür gibt es seiner Meinung nach zwei wesentliche Gründe.
"Erstens sind die lokalen Verwaltungen, insbesondere die Gemeinderäte, in der Türkei sehr stark in eine Klientelwirtschaft verstrickt", erklärt Erdoğan. "Niemand weiß genau, wann und wie oft diese [Gemeinderäte] tagen und was sie eigentlich tun. Aber sie entscheiden über wichtige wirtschaftliche Fragen – welche Gebiete für den Bau ausgewiesen werden, welche Ausschreibungen stattfinden, an welche Unternehmen Aufträge vergeben werden und wie die Einnahmen verteilt werden. Die Männer wollen diese Privilegien einfach nicht mit den Frauen teilen.“
"Die politischen Parteien könnten durchaus Frauen auf die Listen für die Gemeinderäte setzen. Aber das tun sie wegen der wirtschaftlichen Interessen nicht einmal in ihren sicheren Wahlkreisen“, fügte er hinzu.
Seiner Meinung nach begünstigen die innerparteilichen Beziehungen immer die Männer. Diese Dynamik sei männerdominiert, weshalb die Parteiführung nicht den "Mut" habe, Frauen als Kandidatinnen zu nominieren – ganz unabhängig von der politischen Ausrichtung der Partei.
Werben um die Wählerschaft
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An der Basis sind Frauen überall präsent
Obwohl die politischen Parteien kaum bereit sind, weibliche Kandidaten zu nominieren, wie die Projektteilnehmerinnen beklagen, begegnet man Frauen während des Wahlkampfes an der Basis überall.
"Unsere Parteien sind nicht unbedingt bereit, uns zu nominieren, aber sie wollen sehr wohl unsere Fähigkeiten nutzen. Wir sind diejenigen, die von Tür zu Tür gehen und mit den Wählerinnen und Wählern sprechen. Wir organisieren Kundgebungen, entwerfen Plakate und kümmern uns um die kleinen Details des Wahlkampfs, wie die Verpflegung der Wahlhelferinnen und -helfer“, so eine Projektteilnehmerin.
Männliche Politiker wollen die ökonomischen Vorteile auf kommunaler Ebene zwar nicht mit den Frauen teilen, aber zumindest verlangen die politischen Parteien von Frauen eine geringere Registrierungsgebühr für die Kandidatur.
Die Höhe hängt von der angestrebten Position ab, beträgt aber in der Regel die Hälfte dessen, was männliche Kandidaten zahlen müssen. Dieses Prinzip gilt sowohl für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) als auch für die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP).
Kandidatinnen wird also ein kleines Zugeständnis gemacht. Doch die Kandidatur bei Wahlen ist mit hohen Kosten verbunden. Sie bereiteten unseren Teilnehmerinnen große Sorgen. Als wir mit ihnen über die Finanzierung des Wahlkampfes sprachen, gaben viele an, nur über ein begrenztes Budget zu verfügen und auf die Solidarität anderer ehrenamtlich tätiger Frauen angewiesen zu sein.
Solidarität trotz Polarisierung
Die Projektmitarbeiterinnen haben immer wieder erlebt, wie solidarisch die Frauen vor Ort sind, vor allem in den Städten Anatoliens. Als ich Elif Menderes, die ein eintägiges Rhetoriktraining leitete, nach ihren Erfahrungen fragte, überrascht mich ihre Antwort nicht. Sie sagte: "Die Frauen sind untereinander solidarisch, trotz der starken politischen Polarisierung“.
“Es war wunderbar zu sehen, wie sich Frauen untereinander verständigen, besonders in Anatolien. Sie waren vielleicht nicht formell organisiert, aber die Solidarität untereinander war bemerkenswert“, sagte sie. "In meinem Kurs ging es auch darum, wie man Reden mit einem Mikrofon hält. Die Frauen hielten nacheinander ihre Reden. Da sie verschiedenen politischen Parteien angehörten, vertraten sie unterschiedliche Meinungen und kritisierten sich gegenseitig. Aber sie haben sich gegenseitig ermutigt und für jede applaudiert“, so Menderes.
Auch die Hartnäckigkeit der Frauen habe sie berührt. Ihre Entschlossenheit, trotz aller Hindernisse nicht aufzugeben, sei sehr ermutigend für die Zukunft.
"Je länger die Liste, desto besser für uns"
Umfragen zufolge befürwortet die türkische Gesellschaft das Engagement von Frauen in der Politik. Eine im September 2022 von der "I Elect Association", die sich für weibliche Kandidaten in der Politik einsetzt, und dem angesehenen Meinungsforschungsunternehmen KONDA durchgeführte Umfrage ergab, dass 62 Prozent der Befragten meinten, weibliche Politiker würden dazu beitragen, die Türkei voranzubringen und zu einer besseren Gesellschaft zu machen.
Ein ähnlich hoher Prozentsatz von Befragten sprach sich für verbindliche Frauenquoten in politischen Parteien aus. Fast drei Viertel würden es unterstützen, wenn eine Frau aus ihrer Familie in die Politik gehen würde.
Bis zum 12. Februar mussten die politischen Parteien und unabhängigen Kandidaten ihre Nominierungslisten bzw. ihre Kandidatur beim Obersten Wahlrat einreichen. Aus diesem Anlass haben wir eine eigene Liste aufgestellt. Für viele Teilnehmerinnen unserer Projekte wurden die Kandidaturformulare ausgefüllt.
Semin Gümüşel Güner, die als Kommunikationstrainerin die Teilnehmerinnen in Medienarbeit und Kommunikationskampagnen geschult hat, meint: "Je länger die Liste, desto besser für uns. Noch besser wäre es, wenn die Namen auf dieser Liste gewählt würden“, sagte sie. Potenzielle Kandidatinnen müssten sich aber über eines im Klaren sein: Es kann sein, dass sie von ihrer Partei nicht nominiert werden. Und wenn sie doch nominiert werden, kann es sein, dass sie nicht gewählt werden.
"Gebt nicht auf! Arbeitet auf die nächsten Wahlen hin. Vergesst nicht, dass eure Teilnahme und all die Dinge, die wir in diesem Training besprochen haben, extrem wichtig sind“, so Güner. "Ihr sät etwas und diese Saat wird die Politik in der Türkei verändern. Langsam aber sicher. Das ist die Stärke der Frauen. Vertraut darauf.“
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