"In mir ist ein tiefer Schmerz"

Die Türkei leidet unter einem massiven Braindrain. Neben Ärzten, Ingenieuren und Journalisten verlassen auch immer mehr Künstler, Schriftstellerinnen und Intellektuelle ihre Heimat. Vielen von ihnen drohen in der Türkei Haftstrafen. Wie gehen sie mit ihrer Exil-Situation um?
Die Türkei leidet unter einem massiven Braindrain. Neben Ärzten, Ingenieuren und Journalisten verlassen auch immer mehr Künstler, Schriftstellerinnen und Intellektuelle ihre Heimat. Vielen von ihnen drohen in der Türkei Haftstrafen. Wie gehen sie mit ihrer Exil-Situation um?

Die Türkei leidet unter einem massiven Braindrain. Neben Ärzten, Ingenieuren und Journalisten verlassen auch immer mehr Künstler, Schriftstellerinnen und Intellektuelle ihre Heimat. Vielen von ihnen drohen in der Türkei Haftstrafen. Wie gehen sie mit ihrer Exil-Situation um? Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

"Politischer Missbrauch ist der häuslichen Gewalt sehr ähnlich. Er erzeugt Angst und Selbstmitleid und kann einen an einen sehr dunklen Ort ziehen. Ich wollte mich umbringen, ich hasste das Leben, ich hatte das Gefühl, dass es keine Möglichkeit für mich gab, weiterzumachen. Ich brauchte dringend jemanden, der mir sagte, was ich tun sollte.“

Mit diesen drastischen Worten beschreibt die türkeistämmige Schauspielerin Pınar Öğün in einem Vortrag bei Creative Mornings Talk auf Youtube, wie es ist, politisch verfolgt zu sein. Öğün ist wegen der auf die Gezi-Proteste folgenden Ermittlungen und zermürbenden Gerichtsprozesse ins Exil nach Europa geflohen. So wie andere Kulturschaffende auch.

Wie Öğün hatten viele Künstlerinnen und Künstler im Schulterschluss mit den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen bei den Gezi-Protesten 2013 gegen die autoritäre Politik der zu diesem Zeitpunkt seit 11 Jahren regierenden AKP protestiert. In der Folge verurteilte das Oberste Strafgericht in Istanbul im April 2022 etliche von ihnen zu Haftstrafen. Der Prozess, der die Anklagen des Gezi-Prozesses mit denen vom Putschversuch vom 15. Juli 2016 zusammenführte, gilt bis heute als willkürlich geführt.

So erhielt der seit 2017 ohne Beweise inhaftierte Bürgerrechtler, Geschäftsmann und Kulturmäzen Osman Kavala eine lebenslängliche Haftstrafe. Sieben weitere Angeklagte wurden zu je 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Darunter die Filmproduzentin Çiğdem Mater, die 72-jährige Architektin Mücella Yapıcı und der Menschenrechtsanwalt Can Atalay, der bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 aus dem Gefängnis heraus zum Abgeordneten von Hatay gewählt wurde, jedoch nach wie vor in Haft sitzt. Ihnen allen wird vorgeworfen, die Proteste mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, organisiert zu haben.

Die Polizei setzt Wasserwerfer gegen Demonstranten im Gezi Park ein, Istanbul 2013 (Foto: picture-alliance/AP Photo)
The Gezi Park protests took place ten years ago. They were triggered by government building plans in Gezi Park, the small green area on the edge of Taksim Square, but soon turned into a broader protest for civil rights and freedom. Many artists demonstrated side by side with a wide variety of groups in the Gezi Park protests against the authoritarian policies of the AKP

"Dieser Prozess war traumatisch"

Während sich im hundertsten Jahr der Türkischen Republik die Gezi-Proteste zum zehnten Mal jähren, teilt die Schauspielerin Pınar Öğün aus ihrem englischen Exil, wo sie lebt und weiterhin schauspielerisch tätig ist, ihre Bestürzung, Wut und Hilflosigkeit über ihre Social Media-Kanäle. Sie sind ihre Verbindung in die Heimat.

So schreibt sie zur Urteilsverkündung gegen die Künstlerinnen und Künstler im April 2022: "Dieser Prozess war traumatisch. Ein tiefer Schmerz ist in mir drin. Allen, die diese Folter sehen und sich entfernen, die ihre Beziehungen abbrechen, die gleichgültig sind oder es vorziehen, zu vergessen, reiche ich Hände voller Tränen.“

Das Internet ist auch für den Schauspieler Mehmet Ali Alabora, der ebenfalls nach England gegangen ist, zur virtuellen Heimat geworden. Das Bild von Alabora, eingehakt Seite an Seite mit Schauspielkollegen, wurde zu einem der Symbolbilder der Gezi-Proteste. Nun droht ihm in der Türkei lebenslängliche Haft.

In einem Interview erklärte Alabora, das Urteil habe ihn schockiert und gleichzeitig Kräfte in ihm freigesetzt. Heute leitet er die Online-Plattform @bak, die in Kampagnen zu gesellschaftlichem Umdenken auffordert, er organisiert über @gatherin.life ein umfassendes Online-Kulturprogramm und verbindet über @istanbulelsewhere Türkeistämmige aus der ganzen Welt.

"Mein Leben ist absurder als ein absurdes Theaterstück“

Einer der Anklagepunkte gegen Öğün und Alabora betrifft ihre Mitwirkung in "Mi Minör“, einem Theaterstück der Schriftstellerin Meltem Arıkan. Auch sie lebt seit 2013 in England. "Mein Leben wurde noch absurder als das Theaterstück, das ich geschrieben habe“, erzählt die Autorin.

Sie habe das Stück zwei Jahre vor den Protesten verfasst, ohne irgendeine bestimmte Botschaft und ohne die Absicht, das Land zu kritisieren. Melih Gökçek, der damalige Bürgermeister von Ankara, jedoch habe eine regelrechte Hetzjagd auf sie in Gang gesetzt. Als es unerträglich und lebensgefährlich für sie wurde, habe sie das Land verlassen. Von einem Tag auf den nächsten.

Die Filmproduzentin Çiğdem Mater und die 72-jährige Architektin Mücella Yapıcı im Gefängnis (Foto: Murat Utku/DW)
According to Ceyda Nurtsch, "striking human rights violations, the almost total collapse of the rule of law and the desolate economic situation in the country – in particular since the coup attempt of 2016 – are driving more than just the politically persecuted to leave the country." Film producer Çiğdem Mater and 72-year-old architect Mücella Yapıcı (pictured here in prison) were both sentenced to 18 years in prison for their role in the Gezi Park protests

Massive Zunahme von Braindrain

Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen, der fast vollständige Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit im Land, die desolate wirtschaftliche Situation, besonders seit dem Putschversuch 2016, treiben nicht nur politisch Verfolgte ins Ausland. Nach Angaben des Statistikinstituts der Türkei (TÜİK) verzeichnet die Türkei derzeit den größten Braindrain der letzten Jahre. 2022 hätten demzufolge 140.000 türkische Staatsbürger das Land verlassen, doppelt so viele wie 2016.



Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wandern besonders Architekten, Ingenieure, Akademiker und Beschäftigte im Gesundheitswesen aus. So verließen 2021über 1400 Ärzte das Land. Das sind 27-mal mehr als noch vor zehn Jahren. Erdoğans Statement im März 2022: "Sollen sie doch gehen. Dann beschäftigen wir eben die Ärzte, die gerade ihre Abschlüsse an den Unis machen“, erregte große Empörung.

"Was in der Türkei geschieht, verfolge ich nicht mehr. Ich höre keine türkische Musik, lese keine türkischen Bücher, schaue keine Nachrichten“, erzählt Arıkan. "Ich sage das nicht, weil ich denke, das ist etwas Tolles. Aber man muss schauen, dass man nicht verrückt wird. Wenn man allein in einem Land ist, muss man eine Entscheidung treffen. Und ich habe mich gewählt“, sagt sie.

Seitdem sie in England ist, sei sie eine andere Frau geworden und dafür sei sie dankbar. Bei der Schriftstellerin wurde Autismus diagnostiziert, seitdem beschäftigt sie sich mit Neurodiversität und arbeitet vornehmlich als Therapeutin. Groll hege sie gegenüber niemandem, sagt sie. Wenn sie die Türkei aus der Ferne betrachtet, sei sie weder hoffnungsvoll noch enttäuscht.

Aktivisten halten bei einer Demonstration Bilder von Can Atalay hoch, Izmir, Türkei (Foto: picture-alliance/ZUMAPRESS)
Human rights lawyer Can Atalay was elected to represent the province of Hatay in parliament in May 2023, although he remains in jail. Many others have left the country and are building new lives for themselves abroad

"Wir müssen lernen, einander zu verstehen“

Von Türkeistämmigen, die im Ausland leben, würde häufig eine Art "Türkei-Bashing“ erwartet, sagt die Schriftstellerin Ece Temelkuran in einem Interview. Ende 2016 zog die politische Denkerin zunächst nach Zagreb, 2023 dann nach Berlin. Die Bezeichnung Exil lehnt sie aber ab, denn "auch die Menschen in Ländern mit autoritären Regimen führen ein Leben im Exil“. Temelkuran sieht das Problem grundlegender und umfassender und beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit der Entwicklung von Faschismus und Kapitalismus, die keine Ländergrenzen kennen.

Um ihr Leben und ihre Tätigkeit fortsetzen zu können haben auch Journalisten wie Can Dündar, Exil-Wissenschaftler oder Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Aslı Erdoğan, Barbaros Altuğ oder die kurdische Schriftstellerin Meral Şimşek Berlin zu ihrer zweiten Heimat gemacht. Von hier aus sind sie zu einer wichtigen Stimme für eine demokratischere Türkei in einer besseren Welt geworden.

"Solange wir nicht lernen, einander zu verstehen, ändert sich Schicksal der Türkei nicht“, denkt Meltem Arıkan. "Wir verlieren den Menschen aus dem Blick. Stattdessen sehen wir nur Ideologien, Philosophien, richtig, falsch." Die geografische Entfernung habe ihren Blick dafür geschärft.

Auch ihr "altes Ich“ nehme sie jetzt anders wahr. "Erst wenn die Menschen frei sind von Ideologien, wenn das Leben für sie an erster Stelle steht und sie den Individuen die Möglichkeit geben, mehr sie selbst zu sein und einander zu akzeptieren, kann sich etwas ändern.” Zurück in die Türkei, sagt sie, will sie nicht.

Ceyda Nurtsch

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