"Wir Frauen haben viel voneinander gelernt"

Die Herausgeberinnen İclal Ayşe Küçükkırca und Handan Çağlayan
İclal Ayşe Küçükkırca (rechts) und Handan Çağlayan, die beiden Herausgeberinnen des Sammelbands "Frauenbewegungen in der Türkei", der breite Aspekte der feministische Bewegung in der Türkei, eine der stärksten Frauenbewegungen im Nahen Osten, beleuchtet. (Foto: Orlanda Verlag)

Von der kurdischen Frauenbewegung über die Arbeiterinnenbewegung bis zu muslimischen Feministinnen: Der Sammelband "Frauenbewegungen in der Türkei" schlägt eine Brücke zwischen Wissenschaft und Aktivismus. Ein Gespräch mit den Herausgeberinnen İclal Ayşe Küçükkırca und Handan Çağlayan

Interview von Ceyda Nurtsch

Diesem Buch ging eine gleichnamige Konferenz voran, die Sie 2021 organisiert haben. Was hat Sie dazu bewegt, die Ergebnisse in Buchform zu veröffentlichen? 

İclal Ayşe Küçükkırca: Alle, die einen Beitrag zu dieser Anthologie geleistet haben, verstehen sich sowohl als Aktivistinnen als auch als Wissenschaftlerinnen. Wir sehen diese beiden Bereiche nicht getrennt voneinander und versuchen auch mit unserer wissenschaftlichen Arbeit und den Erkenntnissen daraus uns und die Gesellschaft zu verändern. 

Die feministische Bewegung der Türkei ist eine der stärksten Frauenbewegungen im Nahen Osten und daher denken wir, dass es wichtig ist, unsere Erfahrung weiterzugeben. Deswegen haben wir dieses Buch bewusst auf Deutsch veröffentlicht.  

Es war Ihnen wichtig, die Bewegungen aus historischer und intersektionaler Perspektive zu beleuchten. Warum? 

Handan Çağlayan: Wir sehen, dass die feministische Bewegung in der Türkei in einer Kontinuität steht, die in die Zeit des Osmanischen Reichs zurückreicht. Die Gründung der Republik war in gewisser Sicht eine Zäsur. Sie brachte einen Staatsfeminismus, der den Frauen sicher einige bedeutende Rechte gab, dem es aber in erster Linie nicht um die Freiheit der Frauen ging, sondern darum, sie zum Aushängeschild der modernen Republik zu machen. 

Ein "Feminismus von oben" sozusagen. Die muslimische feministische Bewegung zum Beispiel, die in den 2000er Jahren aufkam, lässt sich ohne diesen Hintergrund nicht verstehen.   

Frauen vs. Polizei bei Protesten in Istanbul gegen die Aufkündigung der Konvention (Archivbild)
Türkische Frauen protestieren 2021 in Istanbul gegen die Aufkündigung der europäischen Konvention Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Präsident Erdogan war aus der Konvention ausgetreten. (Archivbild) (Foto: Bulent Kilic/AFP/Getty Images)

Der intersektionale Ansatz war uns wichtig, weil wir so sehen, in welchen Wechselwirkungen zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Dynamiken die feministischen Bewegungen stehen. 

Wenn wir uns etwa die radikalisierte feministische Bewegung ab den 1980er Jahren anschauen, die gegen die Gewalt in der Ehe auf die Straße ging, sehen wir, dass sie in einem historischen Kontext steht und sich aus den linken, sozialistischen Jugendbewegungen der 1960er und 70er Jahre gespeist hat. 

Errungenschaften werden zurückgedreht

Der Beitrag "Die Krise des herrschenden Subjekts: Patriarchale staatliche Gewalt" beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Gewalt gegen Frauen während der AKP-Regierung verändert hat und warum sie zugenommen hat. Was ist der Grund? 

Çağlayan: Eine ähnliche Entwicklung sehen wir auch in Ländern wie Ungarn, Polen, den USA oder teilweise sogar in Deutschland in der Gender-Debatte. Die Errungenschaften der Frauenbewegung seit den 1960er Jahren werden immer weiter zurückgedrängt, besonders in Ländern mit neoliberalen, autoritären Regimen.  

Das zeigt sich in jedem Land in unterschiedlicher Form. In der Türkei war es so, dass die Frauenbewegung seit den 1980er Jahren immer stärker wurde, begünstigt durch bestimmte politische Entwicklungen. 

So wurden im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen radikale juristische und institutionelle Veränderungen zugunsten von Frauen vorgenommen. Auch die kurdische Bewegung wurde immer stärker, besonders in lokalen Organisationen.  

Doch besonders nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 gerieten viele Organisationen unter starken Druck. Es begann ein massiver Gegenangriff und alle Strukturen, die die Frauen stärkten, begannen zu wackeln.  

Als "Terroristinnen" abgestempelt

In den 2000er Jahren tritt mit der religiösen Frauenbewegung eine weitere Bewegung hervor, wie zwei Beiträge beleuchten. Wie haben sich die unterschiedlichen Gruppierungen einander angenähert?  

Çağlayan: Als muslimische Frauen in den 2000er Jahren auf die Straße gingen, demonstrierten sie nicht nur für ihr Recht, ein Kopftuch zu tragen. Sie begannen auch, ihre eigenen Strukturen zu hinterfragen. Erstmals schlossen sie sich in Organisationen zusammen und begannen, über ihre Probleme und Erfahrungen zu sprechen und ihr eigenes Narrativ zu entwickeln. 

In dieser Zeit erstarkte auch die kurdische Frauenbewegung. Sie hatte es geschafft, sich aus der Ecke, in die sie gedrängt worden war, und von dem Stempel als “Terroristinnen”, den man ihr aufgedrückt hatte, zu befreien. In dieser Zeit fanden von der UN organisierten Frauenkonferenzen statt.  

Gleichzeitig liefen die EU-Beitrittsverhandlungen und die USA hatte nach dem 11. September den Irak angegriffen. In dieser Atmosphäre kamen die laizistische, die kurdische und die muslimische Frauenbewegung – auch wenn sich die Musliminnen selbst nicht als Feministinnen bezeichneten – in ihrer gemeinsamen Forderung nach Frieden im In- und Ausland erstmals zusammen. 

Ein anderes gemeinsames Thema waren Gesetzesänderungen, die den Frauen Gleichstellung bringen sollten sowie das Thema Frauenmorde und Suizide sowie die Gewalt gegen Frauen. 

Küçükkırca: Und sie trugen dazu bei, dass sich die laizistischen Gruppen sich mit dem Säkularismus, wie er in der Türkei betrieben wurde, auseinandersetzen mussten. 

Frauen mit Kopftuch in der Türkei
Auch muslimisch orientierte Frauen kämpfen für ihre Rechte. "Als muslimische Frauen in den 2000er Jahren auf die Straße gingen, demonstrierten sie nicht nur für ihr Recht, ein Kopftuch zu tragen. Sie begannen auch, ihre eigenen Strukturen zu hinterfragen", sagt Handan Çağlayan.

Frauen in der Politik sichtbar gemacht

Die kurdische Frauenbewegung gilt als besonders stark. In welcher Wechselwirkung steht sie mit den anderen Bewegungen? 

Çağlayan: Auch das Erstarken der kurdischen Frauenbewegung kann nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Dynamik betrachtet werden. In den 1990er Jahren gab es bereits Feministinnen, die Zeitschriften herausbrachten. Sie kritisierten die kurdische politische Bewegung als zu nationalistisch und patriarchalisch und die türkische politische Bewegung, sie wäre eine Repräsentantin der propagierten offiziellen nationalistischen Identitätspolitik. 

Die Kurdinnen haben eine sehr vernetzte Frauenbewegung geschaffen. Sie haben gezeigt, wie wichtig es ist, ständig politische Aktionen zu veranstalten und diese mit intellektuellem Wissen und einer guten Organisation zu verbinden. Sie haben sich nicht an einem bestimmten Modell festgehalten, sondern immer Neues probiert.  

Es gab Spannungen zwischen ihnen und anderen Bewegungen, aber auch gegenseitige Beeinflussung. Ihr größter Verdienst ist sicherlich, dass sie Frauen in der Politik sichtbar gemacht haben. In Parteien, als Rednerinnen zu allen Themen, an Entscheidungsprozessen mitwirken und die Tagesordnung mitbestimmen. 

Bei den Kommunalwahlen im März sind vermehrt Frauen in politische Führungspositionen gewählt worden. Einige sprachen von der "stillen Revolution der Frauen". Wie bewerten Sie die Ergebnisse? Stimmt sie diese optimistisch für die Frauen in der Türkei? 

Çağlayan: Der Ausdruck “stille Revolution” stimmt nicht ganze, denke ich. Frauen sind eigentlich nicht still. Doch ein System, das mit Bezugnahme auf religiöse Referenzen zunehmend autoritärer wird und sich gegen Einkommensschwache richtet, gefährdet zuerst das Leben von Frauen. Und die Frauen merken das.  
 
Deswegen wollen sie, egal ob Feministin oder nicht, ihre Rechte schützen. Das Ergebnis der Kommunalwahlen ist noch keine Revolution. Wenn man sich die weltweite Entwicklung anguckt, sieht es nicht gut aus. Aber das Ergebnis spiegelt auch die Haltung der Frauen wider. Denn auch sie sagen nun "Stopp“ und wir haben gesehen, dass Menschen jenseits der politischen Parteien eine gemeinsame Haltung finden und die Polarisierung überwinden können. Das gibt Hoffnung. 

Küçükkırca: Die Wahlen brachten der Türkei eine strukturelle Veränderung und die Frauen waren daran maßgeblich beteiligt. Das gibt natürlich Hoffnung. 

Das Interview führte Ceyda Nurtsch.

© Qantara.de 2024 

Handan Çağlayan, İclal Ayşe Küçükkırca, Frauenbewegungen in der Türkei. Eine historische und intersektionale Perspektive, Orlanda Verlag, 2023