Die Stunde der Nationalisten
Die Inszenierung der Schmierenkomödie begann in dem zentralanatolischen Provinznest Sütcüler in der Provinz Isparta.
Der dem Innenministerium unterstehende Landrat der Kleinstadt, Mustafa Altinpinar, ein Ex-Polizist, wollte seiner Beamtenkarriere etwas Gutes antun: Mit populistischen Maßnahmen, die sich im Rahmen nationalistischer Hysterie verkaufen lassen, wollte er Punkte sammeln.
Diffamierung Orhan Pamuks
Der berühmte Romancier Orhan Pamuk wurde als Feind auserkoren. Die öffentlichen Bibliotheken der Stadt wurden angewiesen, Bücher von Orhan Pamuk aus ihrem Bestand zu entfernen und zu "vernichten".
Als Begründung führte der Landrat an, der Schriftsteller habe in Interviews mit ausländischen Zeitungen die "Ehre der türkischen Nation verletzt". Die Ausmerzung der Bücher gehöre zum "Selbstverteidigungsrecht der türkischen Nation".
Zuvor war der Schriftsteller hart mit der politischen Kultur in der Türkei zu Gericht gegangen. In einem Interview mit dem "Zürcher Tagesanzeiger" sagte er: "Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen. Also mache ich es. Und dafür hassen sie mich."
Die türkischen Nationalisten reagierten mit einer Hetzkampagne gegen den Autor. Pamuk erhielt Schmähbriefe und sogar Morddrohungen. Er wurde als "Vaterlandsverräter" gebrandmarkt.
Die Medien wurden Austragungsort einer erbitterten Debatte. Es gab viel Kritik an Pamuks Äußerungen. Doch auch die Zahl derjenigen, die in Kolumnen und Kommentaren Partei für Orhan Pamuk ergriffen, war nicht zu unterschätzen.
Der "Bücherverbrennungsbeamte"
In diese Debatte platzte die Nachricht von der Anordnung des Landrats, der in türkischen Medien alsbald als "Bücherverbrennungsbeamter" tituliert werden sollte. Ein Skandal war ausgebrochen und die Empörung war groß. Der Gouverneur hob formell die Anordnung auf und sprach von Amtsanmaßung.
Das Innenministerium leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den übereifrigen Landrat ein. Und selbst die Nationalisten, die Orhan Pamuk in Grund und Boden verdammt hatten, wollten nicht mit Bücherverbrennern in einen Topf geworfen werden.
Doch die Schmierenkomödie von Sütcüler wäre undenkbar, ohne die nationalistische Mobilisierung in den vergangenen Monaten zu berücksichtigen.
Auf einer Kundgebung anlässlich des Frühjahrsfestes Newroz in der östlichen Mittelmeerstadt Mersin hatten kurdische Jugendliche auf einer türkischen Flagge herumgetrampelt und sie angesteckt.
Im kurdischen Diyarbakir demonstrierte die Menge mit Fotos des zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Zuerst waren es rechtsextreme Kreise, die aus Protest türkische Flaggen aus Wohnungen und Büros hissten.
Die türkischen Flaggen wurden immer mehr. Auch viele, die keine politische Nähe zu den Rechtsextremen haben, hissten Flaggen.
Nationalistische Groschenromane als Bestseller
Als Indiz für aufsteigenden Nationalismus werten türkische Kolumnisten auch den Umstand, dass der nationalistische Groschenroman "Metal Firtinasi", der eine US-Invasion in der Türkei zum Inhalt hat, auf den Bestsellerlisten landete. Verschwörungstheorien, die die Türkei als wehrlose Puppe im internationalen Ränkespiel darstellen, genießen Konjunktur.
Es gehört zu einem traditionellen Grundmuster türkischer Politik, dass innere Konflikte nicht benannt, sondern als Ergebnis des Einflusses ausländischer Mächte wahrgenommen werden.
Sowohl konservative, islamisch geprägte politische Strömungen, als auch säkulare Parteien versuchen mit diesem Muster Politik zu betreiben.
Geht es um Islamisierung der Gesellschaft sind schnell Schuldige gefunden: Der Iran oder Saudi-Arabien mischen klammheimlich in der türkischen Politik mit. Oder die USA versuchen der laizistischen Türkei einen "gemäßigten Islam", in Washington auserkoren, überzustülpen.
Geht es um den kurdischen Konflikt sind ausländische Mächte, die die Stärke der Türkei untergraben und das Land zerstückeln wollen, am Werk.
Diese Art der Wahrnehmung rührt nicht zuletzt aus den Entstehungsbedingungen der türkischen Republik, die nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden ist.
Historische Hintergründe
Der Untergang des Osmanischen Reiches ist nicht zuletzt der aktiven Förderung sezessionistischer Nationalismen durch europäische Mächte geschuldet.
Der Friedensvertrag von Sevres im Jahr 1920 ist noch heute für die Türken ein Schreckgespenst: Damals diktierten die Siegermächte des Krieges einen Vertrag, der selbst Anatolien unter den Siegermächten aufteilte.
Der Widerstand gegen die ausländische Invasion und die Nationalbewegung unter Mustafa Kemal, dem später der Beiname Atatürk, Vater der Türken, gegeben wurde, werden heute in Schulbüchern heroisiert.
Der Erfolg der Nationalbewegung unter Mustafa Kemal führte 1923 zum Friedensvertrag von Lausanne, der die Grenzen der türkischen Republik festlegte und die Voraussetzungen zur Entwicklung eines bürgerlichen Nationalstaates einleitete.
Nach über 80 Jahren seit Gründung der Republik haben sich die Grundkoordinaten internationaler Politik grundlegend verändert. Doch bis heute nährt sich der türkische Nationalismus aus ideologischen Versatzstücken, die der Entstehungsgeschichte der Republik entlehnt sind.
Schreckgespenst Europäische Union
Die demokratischen Reformen, die insbesondere seit dem Machtantritt der islamisch-konservativen "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" zum Zuge kamen und die Dezember vergangenen Jahres den Weg für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union ebneten, haben das politische Interpretationsmonopol des Nationalismus in Frage gestellt.
Nach Jahrzehnten einer repressiven Politik gegenüber den Kurden, die selbst die Existenz des kurdischen Volkes und der kurdischen Sprache in Frage stellte, merkt man heute, dass die neue Liberalität keineswegs die Verfassungsordnung der Republik bedroht. Sie stürzt vielmehr diejenigen, die den bewaffneten Kampf gegen den Staat weiterführen wollen in Legitimationsprobleme.
Die europäische Öffnung gegenüber der Türkei stärkt die demokratischen Kräfte im Land. Ein Zuschlagen der Tür gegenüber der Türkei stärkt die Nationalisten, die das Heil im Isolationismus suchen.
Nationalistischer Zankapfel Zypern
Die Haltung der EU in der Zypern-Frage gilt ihnen als Beweis dafür, dass die "Türken keine Freunde haben". Im vergangenen Jahr hatte die türkische Regierung einen radikalen Wandel in ihrer Zypern-Politik eingeleitet.
Die Friedensbemühungen des UN-Generalsekretärs wurden gestützt und die Mehrheit der türkischen Zyprioten votierte in einem Referendum für den UN-Friedensplan, der die Teilung der Insel aufgehoben hätte.
Es waren die griechischen Zyprioten, die bei dem Referendum mehrheitlich mit "Nein" stimmten und eine Lösung blockierten. Trotz ihres Alleinvertretungsanspruches wurde die (griechische) Republik Zypern Mitglied der EU.
Der international nicht anerkannte (türkische) Norden wird trotz gegenteiliger Zusagen der EU weiterhin auf wirtschaftspolitischem Gebiet bestraft. Doch trotz der gewaltigen Enttäuschung über die EU gilt es als sicher, dass der Reformpolitiker Talat zum neuen Staatspräsidenten der Türkischen Republik Nordzypern gewählt wird. Die Nationalisten haben keine Chance auf einen Wahlerfolg.
Ob dagegen in der Türkei demokratische Reformer oder Nationalisten die Zukunft bestimmen werden, ist ungewiss. Doch das Tabu nationalistische Reflexe nicht zu hinterfragen, ist gebrochen.
Als der berühmte Romancier Yasar Kemal Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Praktiken des türkischen Staates bei der Bekämpfung der kurdischen Guerilla anprangerte, stand er auf verlorenem Posten. Seine Anklagen erschienen in ausländischen Zeitungen und Zeitschriften.
Er hatte nicht die Chancen, seine Ansichten im Land kundzutun. Orhan Pamuk erging es in den vergangenen Monaten besser. Das aufgeklärte Bürgertum stellte sich öffentlich hinter ihn. Der Landrat wurde als "Bücherverbrenner" gebrandmarkt.
In der auflagenstärksten Zeitung des Landes "Hürriyet" erschien tagelang eine Serie um die Ereignisse des Jahres 1915. Es kamen auch türkische und armenische Historiker zu Wort, die die Massaker als Völkermord einordneten. Vor wenigen Jahren noch wäre eine solche Debatte unmöglich gewesen.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2005
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