Die neuen Rechtspopulisten in der Türkei
Der 19. Mai ist in der Türkei ein nationaler Feiertag. Ein symbolträchtiger Tag, den der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk der türkischen Jugend gewidmet hat. Am 19. Mai 1919 startete der Landesvater den Befreiungskrieg gegen westliche Mächte, der bis zur Gründung der Republik 1923 andauerte - so steht es in den türkischen Geschichtsbüchern.
Für Ümit Özdag, den Vorsitzenden der neuen "Partei des Sieges", war der 19. Mai also die Gelegenheit, nationalistische Töne anzuschlagen. Der 61- Jährige besuchte an dem Tag mit einer Gruppe das Mausoleum von Atatürk in der türkischen Hauptstadt Ankara und posierte mit Passanten vor dem großen Monument. Menschen, die ihn erkannten, wollten Selfies mit ihm machen. Ein vorbeilaufender Mann rief ihm zu: "Mein Gelehrter, gut, dass es Sie gibt." Eine Frau küsste Özdag sogar auf die Stirn.
Ümit Özdag ist der Shootingstar der vergangenen Wochen. Wo er auftaucht, bildet sich schnell eine Menschentraube. Alle wollen ihn sehen, viele wollen ihm ihre Unterstützung aussprechen. Denn Ümit Özdag spricht gezielt Themen an, die viele Türken beschäftigen: die galoppierende Inflation, die schwindende Kaufkraft, Existenzängste und angebliche "Entfremdung" im eigenen Land durch Flüchtlinge.
Syrische Flüchtlinge werden zum Sündenbock
Nach offiziellen Angaben leben derzeit in der Türkei 3,8 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge. Wie hoch die tatsächliche Zahl ist, ist ungewiss. Hinzu kommen die Geflüchteten aus Afghanistan, dem Irak, Pakistan und weiteren Ländern, deren Zahl laut UNHCR bei rund 320.000 liegen soll. Die Dunkelziffer wird viel höher vermutet.
"Wir wollen nicht, dass unser Volk mit Hunger und Armut kämpft, während unsere Steuergelder für Syrer, Afghanen und Pakistaner ausgegeben werden", hetzt Ümit Özdag bei vielen Veranstaltungen in den vergangenen Wochen. Das Flüchtlings-Bashing kommt bei vielen Türken gut an. Denn die Menschen haben Angst. Die Inflationsrate lag zuletzt bei rund 70 Prozent. Die Bevölkerung leidet unter den enorm angestiegenen Preisen. Und eine Lösung ist nicht in Sicht.
Ideologische Nähe zu den "Grauen Wölfen" in der Türkei
Eigentlich ist auch Ümit Özdag kein neuer "Erlöser", dafür ist er schon zu lange im etablierten politischen Betrieb. Aber die Töne, die er anschlägt, sind neu.
Ümit Özdag stammt aus einer politisch aktiven Familie. Sein Vater war ein enger Vertrauter von Alparslan Türkes, Gründer der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Bekannt in Deutschland eher durch ihre Organisation "Graue Wölfe", die auch in Deutschland ihre Strukturen hat und vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die Mutter von Özdag war auch bei der MHP aktiv. Sie war die allererste Vorsitzende der Frauenorganisation dieser Partei.
Geboren wurde Özdag in Japan, sein Vater war dort Anfang der 1960er-Jahre im diplomatischen Dienst tätig. Studiert hat Özdag in München an der Ludwig-Maximilians-Universität: Politikwissenschaft, Philosophie und Wirtschaftswissenschaft.
Auch Özdag war Mitglied der MHP. Erst in der Jugendorganisation, dann im Vorstand. Bis er 2016 aus der Partei ausgeschlossen wurde, nachdem er offen die Führung kritisierte. Die MHP ging ein Jahr zuvor ein Bündnis mit Erdogan ein, verhalf der AKP sogar zur Mehrheit bei der Wiederwahl. Die Stütze von Erdogan zu sein, missfiel Özdag zutiefst.
Mit anderen MHP-Dissidenten gründete er dann die konservativ-nationalistische "Iyi Parti", zu Deutsch "die Gute Partei", aus der er 2021 nach einem Zerwürfnis mit der Führungsspitze zurücktrat und schließlich seine eigene Partei gründete: Die "Partei des Sieges".
Viel Zustimmung durch rechte Hetze
So richtig in Fahrt kam seine neue Partei aber erst seit einigen Monaten, nachdem er mit rechtsextremistischen, rassistischen und flüchtlingsfeindlichen Äußerungen vorpreschte. Seine Zustimmungswerte verbesserten sich seitdem rasant. Bei den letzten Umfragen Anfang Mai überschritt sie sogar die Zwei-Prozent-Marke, was für türkische Verhältnisse schon relativ viel ist.
Für Prof. Dr. Kemal Bozay von der IU Internationalen Hochschule Düsseldorf und Köln, der die türkischen Ultranationalisten seit Jahren beobachtet, ist die Couleur der "Siegespartei" eindeutig: "In ihrer Parteiprogrammatik ist sie sehr ultranationalistisch, in der Rhetorik und den Darstellungsformen ist sie sehr rechtspopulistisch", sagt Bozay im Gespräch mit der DW. Özdag setze an bestimmte völkisch-nationalistische Elemente an. Panturkismus, bzw. Panturanismus spiele bei ihm eine wichtige Rolle, ergänzt Bozay weiter. Turan ist bei den türkischen Ultranationalisten ein Ideal von einem ethnisch homogenen Staat aller Turkvölker vom Balkan bis nach Westchina, der unter der Führung von Türken einzurichten ist.
Nach Ansicht des Experten Bozay hat auch Özdag diese historischen völkisch-nationalistischen Elemente in seinem Parteimanifest dargestellt. Außerdem habe Özdag nach der Gründung seiner Partei umgehend das Grab von Alparslan Türkes, dem ehemaligen Anführer der Grauen Wölfe, besucht, um zu signalisieren, dass seine Partei sich auf dessen alte Tradition stütze.
Özdag - ein großer Kritiker der AKP-Regierung
Ümit Özdag geht auch mit der Regierungspartei hart ins Gericht. Zuletzt legte er sich mit dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu an. Dieser kritisierte Özdag mit heftigen Worten, weil die "Siegespartei" einen flüchtlingsfeindlichen Film finanzierte namens "Stille Eroberung". Die Lage zwischen beiden Männern spitzte sich dermaßen zu, dass Özdag den Innenminister zum Erstaunen der Öffentlichkeit zu einer Art Duell herausforderte: Sei der Innenminister Manns genug, möge er herauskommen, drohte Özdag.
Mit solchen Aussagen punktete Özdag dann plötzlich auch bei vielen Regierungskritikern, die sich sogar als sozialdemokratisch definieren. Im Netz brach eine heftige Auseinandersetzung aus. Özdag sei gar nicht rassistisch, meinten viele. Er verteidige die Werte eines gesunden türkischen Patriotismus. Zulauf bekam dann Özdag auch von der größten Oppositionspartei CHP, der Republikanischen Volkspartei.
Unterschied zur MHP oder BBP
Kann sich die "Partei des Sieges" von Özdag etablieren? Für den Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci Universität ist es noch sehr früh, eine Prognose abzugeben. Erst in ein paar Jahren könne man das Potenzial dieser Partei erkennen, nachdem sie sich auch in anderen Bereichen positioniert habe.
Es gab schonmal eine Abspaltung in der Geschichte der türkischen Ultranationalisten. Ihr islamistisch-rechtsextremistischer Flügel sagte sich 1993 los und gründete die "Partei der Großen Einheit" (BBP). Für diese ist der Islam ein sehr wichtiges Element für die türkische Identität.
Für Ümit Özdag und seine Partei spiele dies keine große Rolle, sagt Kemal Bozay. Ein weiterer Unterschied zu den Ultranationalisten sei auch die regierungskritische Haltung. Während die MHP und BBP Erdogan und die AKP-Regierung unterstützen, macht Özdag Opposition gegen die Regierung, erinnert der Experte.
Außerdem hätten diese alten Ultranationalisten, die MHP und BBP, immer eine enge Verflechtung zum so genannten Deep-State, dem "Staat im Staate" der Türkei und seinen paramilitärischen Untergrundstrukturen. Ümit Özdag dagegen habe sich von diesen deutlich distanziert, merkt Bozay an.
Parallelen zu europäischen Rechtspopulisten
Für den Politikwissenschaftler Berk Esen zeigt die "Partei des Sieges" Parallelen zu den europäischen Populisten. Nicht nur wegen der flüchtlingsfeindlichen Thesen, sagt er und erläutert weiter: Für Özdag bestehe die Türkei aus zwei Lagern; Auf der einen Seite stünden die Regierung und Opposition als politische Elite, die die Eroberung der Türkei durch Geflüchtete regungslos hinnähmen. Der Rest sei das Volk, das Özdag mit seiner "Siegespartei" retten will. Für Esen sei es eher überraschend, dass nicht viel früher so eine populistische Partei zustande kam.
Damit spielt er auf das Bündnis zwischen der Regierungspartei und den Ultranationalisten an. Sie unterstützen Erdogan seit 2018 und tragen seine Flüchtlingspolitik mit, obwohl es auch unter ihren Anhängern heftig rumort. Ob sie ihre Anhänger weiter in Schach halten können oder diese an die "Partei des Sieges" verlieren, ist derzeit noch schwer zu beurteilen. Aber das Thema Flüchtlinge wird die türkische Gesellschaft weiterhin beschäftigen.
Elmas Topcu
Mitarbeit: Gülsen Solaker
© Deutsche Welle 2022
Türkei: Das verklärte Erbe des Kemalismus
Autoritärer Wandel in der Türkei: Der Ein-Mann-Staat
Atatürk-Verherrlichung der Nationalsozialisten: Leuchtender Stern in Ankara
Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt? Kein Pendant in Sicht
Buchtipp: "Die türkische Malaise“: Erdoğans Scherbenhaufen
Ende des Osmanischen Reiches: Neue Wertschätzung für einen alten Mythos