Ein Land ringt um seinen Platz
Während die Republik Türkei ihr 100-jähriges Bestehen feiert, ist von einer Jubelstimmung in der Staatselite nicht viel zu spüren. Zweifellos wird die Stimmung durch aktuelle wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen getrübt. Die Türkei ist mit einer hohen Inflation konfrontiert, sie leidet unter einem Einbruch der Konjunktur und einer hohen Arbeitslosigkeit. Sie hat mit Folgen des Ausbleibens von Kapitalzufuhr und ausländischen Direktinvestitionen zu kämpfen. Außerdem befindet sich das Land inmitten geopolitischer Turbulenzen und ist umgeben von Kriegen und bewaffneten Konflikten.
Die Zurückhaltung hat aber auch machtpolitische und ideologische Gründe. Aufwändige Jubiläumsfeierlichkeiten würden Erdoğan in den Schatten Atatürks stellen, von dem er sich befreien will. Schließlich sehen der türkische Staatspräsident und seine Anhänger in der säkularen Kulturrevolution und der Westorientierung Atatürks einen historischen Irrweg.
Entsprechend stellt Erdoğan der säkular-westlichen Republik von Atatürk seine "Neue Türkei“ entgegen. Spätestens seit der landesweiten Protestwelle im Jahr 2013, deutlicher noch seit dem gescheiterten Militärputsch im Jahre 2016 verfolgen Erdoğan und seine Regierungen Vorstellungen von Gesellschaft und legitimer Herrschaft, die sich von Säkularismus und Demokratie absetzen. So hat sich die Türkei in den zurückliegenden zehn Jahren Schritt für Schritt in einen autoritären Staat verwandelt, dessen Eliten sich auf einem rhetorischen Konfrontationskurs mit dem Westen befinden.
In der Außen- und Sicherheitspolitik orientiert sich Ankara nicht mehr an Europa und ignoriert zudem die Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Die Trennung von Staat und Religion – eine zentrale Errungenschaft der Republik Atatürks – ist weitgehend ausgehebelt, man kehrt dem Westen den Rücken und blickt stattdessen selbstbewusst nach Osten und Süden, kooperiert nunmehr mit Katar und Irak und mischt sich in Libyen, Syrien und im Kaukasus auch militärisch ein. So bleibt zu fragen, was von dem westlich-laizistischen Zivilisationsprojekt Atatürks noch übriggeblieben ist.
Eine Erfolgsgeschichte mit Schattenseiten
Trotz soziopolitischer Rückschläge, Wirtschaftskrisen und Militärputsche und obwohl die Türkei eine Autokratie ist, lassen sich die hundert Jahre Republik als Erfolgsstory beschreiben. Die Republikgründer verschrieben sich vier Zielen: Erstens wollten sie die Staats- und Nationenbildung vervollständigen und eine starke Nationalkultur mit einem nationalen Bewusstsein schaffen. Zweitens zielten sie auf die Schaffung einer nationalen Bourgeoisie und eines dynamischen Privatunternehmertums als einer Hauptsäule des modernen Nationalstaates. Historiker Yusuf Akçuraoğlu – Stichwortgeber der Jungtürken und Republikgründer – wies bereits Anfang 20. Jahrhunderts auf die Bedeutung einer nationalen Bourgeoisie hin. Drittens verfolgten die Gründer der Republik das Ziel, den Anschluss an die kapitalistische Moderne zu bewerkstelligen, d.h. eine Marktwirtschaft zu etablieren. Viertens schließlich war es ihr Ziel, die Türkei fest in der westlichen Welt zu verankern.
Auf der Habenseite stehen die relativ zügige Wandlung der Türkei von einer absolutistischen zunächst in eine konstitutionelle Monarchie, später schließlich in eine laizistische Republik sowie von einem Vielvölkerstaat in einen modernen Nationalstaat. Wenngleich das politische System längst als "Competitive Authoritarianism“ (Steven Levitsky) bezeichnet wird, verfügt die Türkei über eine dynamische, liberale und demokratische Zivilgesellschaft. Das Land ist – entgegen den Ordnungs- und Gesellschaftsvorstellungen seiner Staatseliten – Teil der westlichen Zivilisation und verfügt über enge wirtschaftliche, politische und soziale Verflechtungen mit Europa: Rund fünf Millionen Türkeistämmige leben verstreut in Europa, mehrere Millionen EU-Bürger besuchen die Türkei, europäische Unternehmen investieren, produzieren und kooperieren in der Türkei. Die Türkei ist fest verankert in der Nato, gehört zur Europäischen Zollunion und ist – auch wenn die Beitrittsgespräche stillstehen – weiterhin EU-Beitrittskandidat.
Vom Paria der Staatengemeinschaft zum globalen Akteur
Auf der Friedenskonferenz von Lausanne 1923 konnte die türkische Delegation unter der Führung von Armeegeneral İsmet İnönü, einem Weggefährten Atatürks, die Aufteilung Anatoliens in unterschiedliche Einflussgebiete sowie Gebietsansprüche Griechenlands und Armeniens vereiteln und die Kapitulationen abschaffen. Der nationale Befreiungskampf und anschließende Friedensvertrag von Lausanne verschafften der jungen Republik, die dann 1932 in den Völkerbund aufgenommen wurde, internationale Reputation. Aufgrund von Ohnmachtserfahrungen in der Diplomatie machte sich unter der osmanischen Elite das Gefühl breit, europäischen "Machenschaften“ ausgeliefert zu sein. Angesichts solcher "schmachvoller“ Erfahrungen im Rahmen der "Orientalischen Frage“ bekam eine unabhängige Außenpolitik einen hohen Stellenwert unter Entscheidungsträgern.
Mit gezielter Bündnispolitik und öffentliche Diplomatie erweiterte die Staatsführung in den 1930er Jahren den außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum der Türkei. Bündnispolitische Neutralität und Ausbau guter Beziehungen zu den Nachbarstaaten sowie eine Freundschaftspolitik gegenüber der Sowjetunion waren die zentralen Eckpunkte von Atatürks "unabhängiger Außenpolitik“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand eine engere Anbindung an den Westen auf der Tagesordnung – Ankara leitete eine Demokratiewende ein, führte ein Mehrparteiensystem ein, trat der Nato bei und willigte in den Bau des US-Luftwaffenstützpunkt in İncirlik ein. Bis in die späten 2000er Jahre diente die Westbindung als Leitplanke für die türkische Außen- und Sicherheitspolitik.
Das änderte sich, als Griechenland und die Republik Zypern, aber auch der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel der Türkei Steine in den Weg nach Europa legten. Auch geopolitische Turbulenzen wie etwa die arabischen Revolten oder die innenpolitische Machtstabilisierung durch Kontrolle der Militärs haben großen Anteil daran, dass Erdoğan nicht mehr Kurs auf Europa nimmt und zur Europäischen Union ein nur instrumentelles Verhältnis aufrechthält.
Westorientierung unter Erdogan ausgeschlossen
Vieles spricht dafür, dass sich daran kurzfristig nichts ändern wird. Eine Selbstbindung an die westlich-europäischen Werte und Demokratievorstellungen ist nahezu ausgeschlossen, da diese den Machtinteressen des türkischen Staatspräsidenten zuwiderlaufen. Fakt ist, dass die Türkei wirtschaftlich auf die Europäische Union angewiesen ist – als Exportmarkt, Investor, Lieferant von Know-how und Entsenderin von Touristen. Entsprechend ist eine komplette Entkoppelung von Europa unwahrscheinlich, jedoch nicht auszuschließen.
Eine Westorientierung dagegen ist in der Amtszeit Erdoğans nahezu ausgeschlossen. Denn die dafür notwendige Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit widersprechen seiner Machterhaltungsstrategie fundamental. Die sich daraus ergebende Lektion für die Europäische Union lautet, dass Zugeständnisse bei der Modernisierung der Zollunion und der Visafreiheit einer Bestätigung des autokratischen Regimes gleichkämen.
Gleichwohl sollte die Europäische Union nicht die Augen davor verschließen, dass Ankara einen Balanceakt gegenüber Moskau vollführen muss: Die Türkei kann den Handel, die diplomatischen Beziehungen und die strategische Zusammenarbeit mit Russland nicht aussetzen.
So sehr die Türkei strategisch an den Westen gebunden ist, so sehr ist sie auf ein funktionierendes Verhältnis zu Russland angewiesen. Wie sich die Türkei im globalen Systemwettbewerb positioniert, wird von dem geopolitischen Kräftespiel und der Frage abhängen, inwieweit sich die türkische Gesellschaft dem autoritären Regime widersetzt.
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Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am CATS - Centrum für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und lehrt zugleich an der Evangelischen Hochschule in Hamburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Internationale Politik, Geopolitik, Türkeistudien, deutsche Außenpolitik, Migration, Nationalismus und Rassismus. Neben Fachbeiträgen schreibt er Kommentare für türkische und deutsche Zeitungen. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Türkei“ (2017) und "Graue Wölfe“ (2022).