Französische Revolution und Bühnen-Jahrmarkt
Vor kurzem hatte in der türkischen Kulturmetropole Istanbul Roberto Ciullis Inszenierung von "Dantons Tod" Premiere, inszeniert mit türkischen Schauspielern - Startschuss und vielleicht Prototyp einer neuen Art der deutsch-türkischen Kulturkooperation. Von Dorothea Marcus
Rund 2,5 Millionen Türken leben in Deutschland, doch ins Theater geht kaum jemand von ihnen. Warum also in die Ferne schweifen, denn der Handlungsbedarf vor der Tür liegt, mag sich Roberto Ciulli gedacht haben, als er sein neuestes Projekt begann, das sich auf den ersten Blick unspektakulärer ausnimmt, als seine früheren kulturpolitischen Seidenstraßenexpeditionen nach Bagdad oder Teheran: die intensive Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Istanbul.
Brücke zwischen Ruhr und Bosporus
Sie läutet eine weitreichende türkisch-deutsche Theaterkooperation ein, an der sich später auch das Thalia Theater Hamburg, das Berliner Ensemble und die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010 beteiligen.
Es ist nichts weniger als ein strategisch günstig in die türkischen Metropolen Deutschlands gelegter Versuch, eine kulturelle Integration ganz neu zu denken, in dem man eine gemeinschaftliche kulturelle Basis schafft.
Französische Revolution und türkischer Hiphop
Die Szene auf der Bühne mutet schon sehr eigentümlich an: Wie ferngesteuerte Spielfiguren sitzen die Hauptfiguren der Französischen Revolution in einem Jahrmarktswagen - mechanisch rappen sie die erste Szene als türkischen Hiphop herunter.
Revolutionen machen müde und keinen Spaß mehr. Robespierre und Danton tragen Affenmasken und sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden: das Rad der Geschichte, die gnadenlose Guillotine hat jede ideologische Differenz zu Staub zermahlen.
Die Inszenierung spielt auf einem Bühnen-Jahrmarkt, der gleichzeitig ein Zwischenreich des Todes ist: Hier rollen Köpfe wie Bowlingkugeln. Eine typische Ciulli-Metapher, tröstlich und verstörend, bei der mitschwingt, dass das Leben nur ein flüchtiges Theater und vor dem Tod jeder gleich ist.
Autistisch wippend sitzen die gefressenen Kinder der Revolution dann in Sträflingskleidung auf einem abgestürzten Karussell und halten ihre Ketten selbst: im Namen der Freiheit begibt man sich freiwillig in selbst kreierte Gefängnisse.
Szenenwechsel Istanbul
Vor einem Jahr hatte Ciulli mit "Dantons Tod" in Mülheim Premiere - dort war die Grundstimmung todessehnsüchtig und kampfesmüde. In Istanbul geht es bunter und lebendiger zu. Der schwergewichtige Istanbuler Danton ist ein lebensgefräßiger, sinnlicher Koloss, der noch richtig traurig sein kann.
"Eylül", "September" schreit er immer wieder, gepeinigt von den Gespenstern seiner Vergangenheit: Denn ehe Danton aus der Tötungsmaschinerie der Revolution ausstieg, war er für die Septembermorde verantwortlich.
Es ist dieser Ausstieg aus der Logik des Tötens, die Ciulli mit Büchners Danton zeigen will. Einen Menschen, der auf der Höhe des Ruhmes lieber stirbt, als die Schuldspirale weiter zu drehen.
Was die türkischen Zuschauer im ausverkauften Haus von Dantons Wesen begreifen, ist schwer zu sagen. Zwar stehen auf den Spielplänen oft Brecht, Schiller oder sogar Tankred Dorst, aber Büchner ist den meisten kein Begriff.
Ein Stück türkischer Geschichte
Auch die Französische Revolution, blutiges Kernereignis der europäischen Identität, ist nicht bekannt in einem Land, das bis 1980 rund alle zehn Jahre von einem eigenen Militärputsch erschüttert wurde.
So berichtet der Direktor der Städtischen Bühnen, Mazlum Kiper: "Einmal erst wurde hier ein Versuch gemacht, Dantons Tod zu spielen: das war im September 1956. Kurz vor der Premiere wurde das Stück jedoch verboten, wegen des Wortes 'September', was als politische Anspielung in dieser Zeit zu brisant war."
Zwei Wochen vor der damaligen Premiere, am 6. und 7. September, wurde ein Militärputsch verübt, erinnert sich Kiper. Der Monat September sei für die Türkei von großer Bedeutung, denn auch der letzte Militärputsch der Türkei von 1980 habe an einem 12. September stattgefunden:
"Ich bin sehr froh, dass wir es jetzt endlich spielen können. Ich glaube, es wird ganz deutlich zeigen, dass die Türken und die Deutschen trotz aller Schwierigkeiten gut zusammenarbeiten können, und dass die Türkei zu Europa gehört."
Inhaltliche Neuorientierung
24 Jahre lang hat Mazlum Kiper in Stockholm Theater gemacht. Seit vier Monaten ist der 59jährige nun Direktor des Stadttheaters in Istanbul und versucht, auf den sonst so volkstümlichen türkischen Bühnen ein zeitgenössisches und internationales Programm zu zeigen.
In Planung sind Stücke über den Bosnienkrieg oder albanische Frauenschicksale, im nächsten Jahr sogar eins über das hochbrisante Thema Ehrenmord.
Von der deutsch-türkischen Inszenierung, die auch in Deutschland auf Tournee gehen wird, verspricht sich Kiper eine stärkere Verbindung des türkischen Theaters zu den in Deutschland lebenden Türken - und eine kulturelle Annäherung beider Länder, die vielleicht in ferner Zukunft auch zu einem türkischen EU-Beitritt führen mag.
Allerdings ist ungewiss, wie lange der neue Intendant seine Modernisierung des Istanbuler Theaters noch durchführen kann: Intendanten arbeiten in der Türkei ohne Vertrag, jeden Tag können sie von der Regierung entlassen werden.
Fast auf Lebenszeit fest angestellt dagegen sind die rund 200 Schauspieler, die täglich, oft mehrmals, auf den sieben Bühnen des Stadttheaters stehen - für einen im teuren Istanbul lächerlichen Lohn von 900 Euro.
Problematische Arbeitsbedingungen
Der Darsteller des Danton, Engin Alkan kennt die schwierige Arbeitssituation türkischer Schauspieler nur allzu gut: "Manchmal fühlen wir uns wie Spielmaschinen, auf deren Knopf man einfach nur drücken muss", so Alkan. "Um zu überleben, müssen wir als Lehrer oder Synchronsprecher arbeiten. In den letzten zehn Jahren ist es sehr viel schwieriger geworden - wir müssen uns sogar unsere Schminksachen selbst kaufen."
Alkan schätzt die kulturelle Zusammenarbeit mit Europa, die für die Türkei besonders wichtig sei. "Es könnte uns von der ganzen politischen Diskussion über die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und der Türkei befreien", meint der Schauspieler.
Die meisten Künstler in der Türkei hätten gar nicht unbedingt die Absicht, dass die Türkei der EU beitritt, so Alkan: "Uns interessiert eher der Weg, den sie für den EU-Beitritt zu gehen bereit ist: so konnte die Türkei in den letzten zehn Jahren eine enorme Entwicklung machen. Es wäre fantastisch, wenn das jetzt auch im Theater passieren würde."
Schauspiel auf hohem Niveau
Trotz aller Kritik am desolaten Entwicklungszustand ihres Theaters - die Türken spielen auf einem Niveau, das mit jedem europäischen Schauspieler mithalten könnte.
Es ist atemberaubend, wie durchlässig und improvisationsfreudig, souverän und publikumsnah die zwölf Darsteller auf der Bühne agieren. Vielleicht liegt es an ihrer enormen Spielroutine - rund 70 Vorstellungen im Monat spielt das fast immer ausverkaufte türkische Stadttheater in Istanbul, manche Stücke sind schon seit 15 Jahren im Repertoire.
Vielleicht liegt es aber auch an ihrer großen Begeisterung für die Arbeit mit einem europäischen Regisseur. Denn die erste Inszenierung eines Deutschen mit türkischen Schauspielern ist in der 17-Millionen-Metropole unbestreitbar eine Sensation.
Neben der Kosmetikwerbung prangen überall die Danton-Plakate, täglich ist Roberto Ciulli in großen Zeitungsinterviews und Talkshows präsent. "Kann man mit Gewalt Demokratie erreichen?" wird Ciulli in den Zeitungen zitiert und erinnert die Türken schmerzhaft daran, wie sehr sie gegen den Irak-Krieg waren - und wie schwer der eigene Kampf für die Demokratisierung ihres Landes ist.
Provozierende Stilmittel
Genüsslich hat Ciulli in dem islamischen Land die sexuell aufgeladene Büchner-Sprache inszeniert, spielt bilderreich mit der Nähe von Liebes- und Todesstrieb Dantons und mit der paradoxen Situation Istanbuls zwischen Tradition und Moderne: Die Antreiber von Robespierres Fanatismus sind als jene Transvestiten verkleidet, die im kosmopolitischen Istanbul an jeder Straßenecke zu sehen sind.
Doch das ist nur einer der vielen erstaunlichen Gegensätze in diesem Land zwischen Islam und Europa, von dem man selbst nicht zu sagen vermöchte, wie sehr es zu Europa gehört.
Die türkischen Zuschauer reagieren trotz der ungewohnten und für viele provozierende Stilmittel begeistert, auch wenn einige beklagen, dass sie kaum etwas von der Französischen Revolution wissen und sie in der Türkei ganz andere Probleme haben.
Frischer Wind für kulturelle Kooperationen?
Dennoch scheinen sie zu spüren, dass Ciullis Inszenierung in Istanbul eine neue Art der kulturellen Kooperation mit der Türkei einleiten könnte, die beiden Seiten nützt. Was auf türkischer Seite wie ein theatralisches Plädoyer für einen EU-Beitritt wirken könnte, entwickelt sich auf deutscher Seite vielleicht zu einem neuen Ansatz, die Integration der 2,5 Millionen Türken in Deutschland zu fördern.
Und das trifft sich wohl gut mit den Utopien Ciullis: Unabhängig von Nationengrenzen gemischte Weltbürgeridentitäten schaffen, deren Kulturen sich gegenseitig bereichern. Vielleicht kommen dann ja auch ganz neue Zuschauer in die Krisen geschüttelten deutschen Theater.
Dorothea Marcus
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005
Die Ciulli-Inszenierung "Dantons Tod" läuft im Theater an der Ruhr zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 10. Juni um 19:30 Uhr.
Qantara.de
Roberto Ciulli
Zwischen Teheran und Mülheim
Roberto Ciulli pflegt den "Dialog der Kulturen": Er organisiert Austauschprogramme von Theatergruppen aus Deutschland und islamischen Ländern - und hat dabei gelernt, kreativ mit politischen Auflagen umzugehen. Von Peter Philipp
Theater an der Ruhr
Theaterlandschaften Seidenstraße
Im Rahmen des Seidenstraßenprojekts wurden vier Regisseure aus dem Maghreb vom Theater an der Ruhr eingeladen. Bei einer Gesprächsrunde diskutierten sie das Verhältnis von Orient und Okzident in ihrer Arbeit. Eva Schmidt war dabei.
Interview Faruq Muhammad
Theater ohne Parolen und Propaganda
Der irakische Schriftsteller und Dramaturg Faruq Muhammad war zusammen mit acht Kollegen Gast des Goethe-Instituts und des Theaters an der Ruhr. Youssef Hijazi sprach mit ihm über die Theaterlandschaft im Irak vor und nach dem Krieg.