Das Bündnis und die Grenzen seiner Strategiefähigkeit
An der Führung der Operation wird die Schwierigkeit erkennbar, eine unter den Mitgliedstaaten konsensfähige, integrierte Strategie für Counterinsurgency, Anti-Terror- und Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen zu formulieren und umzusetzen.
Zunehmend drängt sich die grundsätzliche Frage auf, ob die Nato-Mitgliedstaaten in Afghanistan derzeit zu einer gemeinsamen Vorgehensweise in der Lage sind. Die konkrete Einsatzführung in Afghanistan resultiert aus den unterschiedlichen strategischen Schwerpunkten, die von den an der ISAF beteiligten Nationen gesetzt wurden.
Während Bündnismitglieder wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien den Afghanistan-Einsatz von Beginn an als Anti-Terror-Operation verstanden, haben andere wie Deutschland und Italien den Stabilisierungs- und Wiederaufbauauftrag wesentlich stärker betont.
Notwendigerweise leiten beide Seiten unterschiedliche Folgerungen aus ihrem jeweiligen Verständnis des Afghanistan-Einsatzes ab. Aus der Zusammenführung der divergierenden Ansätze ergibt sich eine am Konsensprinzip orientierte Kompromisslösung. Problematisch ist insbesondere, dass weder die militärischen noch die zivilen Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis zu den jeweils definierten Operationszielen stehen.
Militärische Operationen im Süden Afghanistans
Die im Januar 2006 begonnene Ausweitung des ISAF-Einsatzes auf den Süden und Osten Afghanistans hatte zur Folge, dass sich das Bündnis immer häufiger mit der Durchführung von Kampfeinsätzen befassen musste. Die ISAF-Kommandeure sehen sich heute mit dem Auftrag konfrontiert, in ein und demselben Raum parallel zu Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen auch Kampfeinsätze und Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenanbaus zu befehligen.
Dies hat innerhalb der Nato für wachsende Spannungen gesorgt. Die jeweilige nationale Politik drückt sich in rechtlichen Einsatzbeschränkungen (Caveats) für die einzelnen Kontingente aus. Den Hauptteil der militärischen Kräfte im Süden Afghanistans stellt Großbritannien, unterstützt von Kanada, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden und kleineren Kontingenten meist nordischer Staaten.
Andere ISAF-Truppensteller, insbesondere Deutschland, stehen einer Entsendung von Verbänden in den Süden skeptisch gegenüber. Die hieraus resultierende Problematik hat beispielhaft die Operation Medusa vom September 2006 gezeigt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte führte die Nato einen massiven Kampfeinsatz mit Landstreitkräften durch.
Die Operation stieß auf wesentlich stärkeren Widerstand der Taliban, als die Nato ursprünglich erwartet hatte. Die vom kanadischen Kommandeur angeforderte Unterstützung wurde ihm von mehreren Nato-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, unter Verweis auf nationale Einsatzrichtlinien verweigert. Dabei erfordert die Führung einer multinationalen Operation aber die grundsätzliche Bereitschaft zur Teilung von Lasten und Risiken.
Unzureichende Ausstattung der ISAF
Faktisch sind die der Nato überstellten Verbände für den ISAF-Kommandeur somit nur bedingt verfügbar und unterliegen einem politischen Vorbehaltsrecht. Die Schwierigkeiten beschränken sich allerdings nicht auf die Einsetzbarkeit von Kräften; auch die von den ISAF-Mitgliedstaaten gestellte Ausrüstung und die Transportmittel werden den Gegebenheiten in Afghanistan nicht gerecht.
Mangelhaft ist insbesondere die Ausstattung mit Transporthubschraubern und Aufklärungsmitteln. Insgesamt ist die Streitkräftestruktur des Bündnisses auf die Bereitstellung von Kräften und Ausrüstung für Kampfeinsätze wie in Afghanistan nicht ausgerichtet oder die Mitgliedstaaten sind nicht willens, diese Mittel – wenn vorhanden – zur Verfügung zu stellen.
Ausrüstung und Bewaffnung der eingesetzten Streitkräfte sind vorrangig auf den Schutz der Soldaten zugeschnitten und nicht auf deren Durchsetzungsfähigkeit. Um das Risiko eigener Verluste möglichst gering zu halten, greift die Koalition aufständische Taliban verstärkt aus der Luft an.
Der Einsatz von Luftstreitkräften wird dabei immer wieder auch zivile Opfer fordern. Denn einerseits missbrauchen Taliban und al-Qaida im Interesse an hohen Opferzahlen Zivilisten als Schutzschild. Andererseits können Luftangriffe trotz aller technologischen Fortschritte nicht absolut punktgenau durchgeführt werden.
Grundsätzlich steht das bereitgestellte Potential an Truppen und Ausrüstung in keinem Verhältnis zum militärischen Auftrag in Afghanistan. Aufgrund dieses Missverhältnisses sind die Nato-Truppen nicht in der Lage, Regionen militärisch zu kontrollieren.
Sie können lediglich taktische Erfolge über Taliban-Einheiten erringen. Der Wert solcher Erfolge ist zudem begrenzt, solange die angestrebte Sicherheitssektorreform auf sich warten lässt.
Probleme bei der Sicherheitssektorreform
Die im Rahmen der ISAF-Mission angestrengten Stabilisierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen spiegeln die mangelnde Konsensfähigkeit der Nato-Staaten wider. Insbesondere der Ansatz, die Verantwortung für Einzelfragen der Reform des afghanischen Sicherheitssektors bestimmten Nationen zuzuweisen, hat sich als untauglich erwiesen.
Die Einsatzrealität hat gezeigt, dass sich die einzelnen Aspekte der Sicherheitssektorreform weder inhaltlich noch personell voneinander trennen lassen. Zudem hat das Konzept der Einzelverantwortlichkeit darunter gelitten, dass die betrauten Nationen grundsätzlich divergierende Ansätze mit unterschiedlichen Zielsetzungen verfolgen.
Im Resultat sind beispielsweise der Polizei- und Justizaufbau durch die verantwortlichen Nationen Deutschland und Italien nicht substantiell vorangetrieben worden, auch Großbritannien ist mit der Erfüllung seines Auftrags, den Drogenanbau zu bekämpfen, nicht sehr weit gekommen.
Unzureichende Präsenz ziviler Partner
Die Einführung von Provincial Reconstruction Teams (PRT) konnte zu Stabilisierung und Wiederaufbau ebenfalls nur wenig beitragen. Während die PRTs aus amerikanischer Sicht ein Mittel zum Werben um "hearts and minds" sind, zielen die deutschen Überlegungen darauf ab, unter Einsatz von möglichst wenig militärischen Ressourcen günstige Voraussetzungen für die Wiederaufbaubemühungen ziviler Hilfsorganisationen in unsicheren Regionen zu schaffen.
Allerdings lassen sich mittels der im Verhältnis zur Größe des Landes wenigen PRTs in dieser Hinsicht keine substantiellen Fortschritte erzielen. Zudem hat sich aufgrund der zunehmend kritischen Sicherheitslage eine Art Wagenburgmentalität in den PRTs entwickelt.
So verlassen teilweise nicht mehr als 10–20 Prozent der deutschen Soldaten überhaupt nur einmal während ihres laufenden Einsatzes den Stützpunkt. Von der ursprünglichen Konzeption möglichst flexibler, kleiner, in die afghanische Gesellschaft eingebetteter Einheiten ist folglich nicht mehr viel übriggeblieben.
Der Anspruch, mittels eines integrierten Ansatzes zivile und militärische Mittel koordiniert zur Wirkung zu bringen, bleibt insbesondere aufgrund der unzureichenden Präsenz ziviler Partner wie Europäische Union, Vereinte Nationen und Weltbank in der Einsatzwirklichkeit unerfüllt.
Kriegsvölkerrechtliche Grundlagen unklar
Der Mangel an einer einheitlichen Strategie für die Afghanistan-Operation ist zudem eng mit dem Umstand verbunden, dass von Beginn an Uneinigkeit über deren kriegsvölkerrechtliche Grundlage herrschte. Dies betrifft in der Hauptsache den rechtlichen Status von al-Qaida-Mitgliedern und Taliban.
Während die USA al-Qaida- und Taliban-Kämpfern als "unrechtmäßigen Kombattanten" den Kriegsgefangenenstatus vorenthalten wollten, ließen die europäischen Partner keinen Zweifel an ihrer Auffassung, dass die Genfer Konventionen im Afghanistan-Krieg gelten.
Ungeachtet dessen übergaben europäische Einsatzkräfte Gefangene an ihre amerikanischen Partner, weil das Bündnis im Rahmen der ISAF keine eigenen Internierungseinrichtungen unterhielt. Erst mit der sukzessiven Ausweitung des Einsatzgebietes und der damit verbundenen Zunahme der Zahl von Gefangenen wurde die Brisanz der Thematik innerhalb des Bündnisses deutlich.
Fähigkeit des Bündnisses geschwächt
Die Nato änderte daraufhin ihre Politik in diesem Bereich grundlegend. Seit 2005 haben verschiedene ISAF-Mitgliedstaaten Memoranda of Understanding (MOU) mit der afghanischen Regierung abgeschlossen, denen zufolge Gefangene innerhalb von 96 Stunden an die afghanischen Sicherheitskräfte zu übergeben sind.
Allerdings scheiterte die Nato bei dem Versuch, ein gemeinsames MOU für alle ISAF-Staaten auszuhandeln. Die afghanische Regierung musste notgedrungen mit jedem einzelnen ISAF-Mitglied ein MOU abschließen. Somit fehlt nach wie vor eine einheitliche Rechtsgrundlage, die den Status von Gefangenen regelt.
Die Uneinigkeit der Alliierten über die kriegsvölkerrechtliche Grundlage der Operation unterminierte auch die Legitimität des Einsatzes und stellte den eigenen Anspruch in Frage, ein Modellbeispiel für den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan zu bieten.
Vor dem Hintergrund der Berichte über die Misshandlung von Gefangenen in Guantanamo und Abu Ghraib (Irak) hat dieser Mangel an Einigkeit die Bereitschaft der europäischen Partner zusehends vermindert, die Anti-Terror-Operation in Afghanistan konsequent zu unterstützen. In der Folge wird die Fähigkeit des Bündnisses geschwächt, auf Entwicklungen mit strategischer Bedeutung zu reagieren.
Keine regionale Strategiedimension
Regionale Einflussfaktoren gewinnen für die Afghanistan-Operation mehr und mehr an Bedeutung. Die mittelfristige Stabilisierung Afghanistans kann nur gelingen, wenn der Iran und Pakistan diese Zielsetzung mittragen. Speziell die afghanisch-pakistanische Grenzregion hat sich zu einem Rückzugsraum und einer Basis für al-Qaida und Taliban entwickelt.
Die Taliban unterhalten in den Stammesgebieten auf der pakistanischen Seite der Grenze eigene Lager, in denen Kämpfer ausgebildet und von wo aus Operationen geplant und initiiert werden.
Ein Erfolg der Nato-Operation in Afghanistan wird nur mit einer Strategie zu erzielen sein, die insbesondere die Rolle der pakistanischen Stammesgebiete gebührend berücksichtigt. Dies geschieht bislang nicht in ausreichendem Maße.
Schlussfolgerungen bezüglich des Einsatzes
Die Aufteilung der Einsatzgebiete und der Aufgabenschwerpunkte bei der Reform des afghanischen Sicherheitssektors fördert Differenzen unter den Nato-Mitgliedstaaten über die Ziele des Bündnisses in Afghanistan – zumal sich aus den regionalen und sektoralen Schwerpunkten für die eingesetzten Truppen und zivilen Kräfte unterschiedliche Aufgaben und Risiken und für den jeweiligen Mitgliedstaat der ISAF unterschiedliche finanzielle Belastungen ableiten.
Ein Konsens der Bündnispartner in der Frage der weiteren Ausrichtung der Afghanistan-Operation ist abhängig von deren Bereitschaft, bei der Lasten- und Risikoverteilung größere Kompromisse einzugehen.
Allerdings sollte sich die Diskussion innerhalb der Nato nicht auf die Planung und Durchführung der Operation beschränken, sondern im gleichen Maße die dafür nötigen Strukturen des Bündnisses einbeziehen.
Wie sähe ein neues Konzept aus?
Die Entscheidungsstrukturen der Atlantischen Allianz werden sich, trotz der offenkundigen Schwierigkeiten, die das Konsensprinzip bei Beschlüssen über militärische Operationen mit sich bringt, nicht grundsätzlich ändern lassen. Umso wichtiger wäre es daher, einen bündnisinternen Kontext zu schaffen, der die Verständigung zwischen den Mitgliedstaaten über Fragen der strategischen Planung und deren operative Umsetzung erleichtert.
Da etwa die Bereitstellung kostspieliger Ausrüstungsmittel immer wieder an der Frage der Finanzierung scheitert, ginge es auf der operativen Ebene beispielsweise um die Durchsetzung gemeinsamer Finanzierungsmechanismen. Ein sehr ehrgeiziges Ziel wäre, vor dem Hintergrund der bei der Durchführung von Counterinsurgency und Anti-Terror-Operationen gesammelten Erfahrungen ein neues strategisches Konzept mit dem Ziel einer gemeinsamen militärpolitischen Doktrin zu initiieren.
Ein solches Konzept sollte nicht nur strategische Fragen behandeln und klären, sondern auch die völkerrechtlichen Grundlagen militärischer Einsätze. Schließlich muss das Bündnis nach Antworten suchen, wie sich ein koordinierter Einsatz ziviler und militärischer Mittel operativ umsetzen lässt. Die Nato hat sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sie eigene zivile Kapazitäten braucht.
Welchen Beitrag kann Deutschland leisten?
Im Hinblick auf die Mandatsdebatte im Deutschen Bundestag stellt sich in der jetzigen Lage grundsätzlich die Frage, welchen Beitrag Deutschland zur Stärkung der Strategiefähigkeit des Bündnisses leisten könnte. Ein konkret zu klärender Punkt ist, ob die politische Festlegung einer Truppenstärkenobergrenze sinnvoll ist oder ob das Mandat nicht vielmehr bestimmte Soll-Fähigkeiten definieren müsste, aus denen die Truppenstärke dann abzuleiten wäre.
Fraglich ist auch, ob die Befristung auf ein weiteres Jahr der Operation dienlich ist, zumal in diesem Zeitraum realistisch betrachtet keine Fortschritte in einer Größenordnung zu erwarten sind, die eine grundlegende Mandatsänderung oder gar einen Abzug rechtfertigen würden.
Sinnvoll wäre ein auf einen längeren Zeitraum ausgerichtetes Mandat, das die Kontingentstärke flexibel regelt und den deutschen Einsatzführern auf Grundlage einer Zustimmung des Verteidigungsausschusses die Entsendung zusätzlicher Truppenverbände für bestimmte Einsatzaufgaben (wie zum Beispiel Militärausbildung) ermöglicht.
© Timo Noetzel und Sibylle Scheipers
Dr. Timo Noetzel ist Fellow bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik" in Berlin, bei Chatam House und bei RAND. Aktuelle Schwerpunkte: Spezialkräfte, Stabilisierungskräfte der Bundeswehr, NATO und Afghanistan.
Dr. Sibylle Scheipers ist Associate Fellow bei Chatam House. Ihre Schwerpunkte u.a.: Transatlantische Sicherheitskooperation, legale und ethische Normen in bewaffneten Konflikten.
Qantara.de
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