Das zweite Emirat der Taliban
Seit nunmehr zwei Jahren herrschen die Taliban mit ihrem "Islamischen Emirat“ wieder über Afghanistan. Der von den USA geleitete Versuch, das Land zu befrieden und aufzubauen, ist mit der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 kläglich gescheitert.
Die Perspektiven auf dieses zweite Emirat sind jedoch unterschiedlich. Für viele scheint die Schreckenszeit des ersten Talibanemirats zwischen 1996 und 2001 zurückgekehrt. Internationale Medien berichten von zahlreichen außergerichtlichen Festnahmen und Hinrichtungen. Insbesondere ehemalige Ortskräfte ausländischer Streitkräfte sind davon betroffen.
Während der ersten Talibanherrschaft kam es bereits zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen, unter denen besonders Frauen und Mädchen sowie ethnische und religiöse Minderheiten zu leiden hatten. Dem lag eine groteske Mischung aus islamischem Fundamentalismus und Führerkult zugrunde. Jede Form der Kritik wurde abgelehnt, Kompromisse waren unmöglich.
Nun äußern manche Afghaninnen und Afghanen jedoch die Hoffnung, dass die aktuelle Talibanführung nicht dieselbe sei wie damals. Tatsächlich liefen im Vergleich zu den neunziger Jahren schon die ersten Tage der Machtübernahme glimpflicher ab. Während die siegreichen Taliban 1996 als eine ihrer ersten Handlungen den früheren Präsidenten Najibullah und dessen Bruder zu Tode folterten und die Leichen öffentlich zur Schau stellten, kamen im August 2021 Vertreter der geschlagenen Republik mit den neuen Machthabern zu Gesprächen zusammen, auch wenn diese zu keinen Ergebnissen führten.
Auch in der Bildungspolitik gibt es Unterschiede. Während des ersten Talibanregimes fand praktisch gar keine Mädchen- und Frauenbildung mehr statt. Aktuell können Mädchen bis zur sechsten Klasse zur Schule gehen. Zur Universität sind Frauen jedoch seit Ende 2022 nicht mehr zugelassen.
Zunächst durften Frauen zunächst weiter für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) arbeiten. Ende 2022 wurde dies ebenfalls durch Talibanführer Akhundzada verboten. Teilweise sind die Taliban diesbezüglich aber eher zu Kompromissen zu bewegen, etwa was die Duldung weiblicher Berufstätigkeit in Krankenhäusern anbelangt. Seit Juni 2023 dürfen NGOs jedoch keine Schulen mehr betreiben. Im Juli schlossen die Taliban zudem alle Schönheitssalons als letzte Orte, an denen Afghaninnen noch selbstständig arbeiten konnten.
Immer wieder Demonstrationen
Wirklich neu ist, dass die Betroffenen diese Einschränkungen nicht mehr widerstandslos hinnehmen. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 kommt es immer wieder zu Demonstrationen von Frauen, die dabei häufig sogar ihre Gesichter zeigen – damals wie heute klar verboten.
Die mutigen Demonstrantinnen riskieren dabei sehr viel und die Proteste werden immer wieder gewaltsam aufgelöst. Im ersten Talibanregime wären solche Aktionen allerdings völlig undenkbar gewesen, da Frauen damals selbst mit kleinsten Verstößen gegen geltendes Recht schwerste Strafen – bis hin zum Tod – nicht nur für sich, sondern auch für ihre Ehemänner riskierten.
Männer haben unter den neuen Machthabern mehr Freiheiten als beim ersten Talibanemirat. Ihre Frisur- und Kleidungsvorschriften für Männer werden nicht mehr überall komplett umgesetzt. Zumindest in größeren Städten sind rasierte oder westlich gekleidete Männer weiterhin zu sehen. Zudem wird die Ausübung von Mannschaftssport anders als früher weitgehend geduldet, und Gebetszeiten werden nicht mehr rigoros durchgesetzt.
Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass die Taliban neuerdings auch die Darstellung von Lebewesen in Medien dulden. Galt früher ein striktes Verbot der Darstellung von Menschen und teilweise sogar von Tierabbildungen sind heute Foto- und Videoaufnahmen von Personen zumindest in Nachrichtensendungen sowie den eigenen Propagandamedien der Taliban allgegenwärtig. Die früheren Kämpfer lassen sich sogar gerne von afghanischen Youtuberinnen interviewen.
Ein neuer Ansatz
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für dieses in Teilen moderatere Verhalten der Taliban bei der Umsetzung ihrer Regeln in die Praxis. In ihrer aktuellen Selbstdarstellung bleiben sie eher vage: "Wenn es um unsere Ideologie und unseren Glauben geht, so gibt es keinen Unterschied. Aber im Hinblick auf Erfahrung, Reife und Vision gibt es große Unterschiede im Vergleich zu vor zwanzig Jahren“, so Talibansprecher Zabihullah Mujahid in seiner ersten Pressekonferenz nur wenige Tage nach dem Umsturz.
Diese Erklärung ist plausibel. Bei ihrer Niederlage 2001 mussten die Taliban erkennen, dass sie sich extrem unbeliebt gemacht hatten. Hinzu kommt, dass die Globalisierung auch vor Afghanistan nicht Halt macht und sich die Taliban mit ihren Folgen auseinandersetzen müssen.
Tausende Taliban – insbesondere Kommandeure – verbrachten in den zwanzig Jahren zwischen den beiden Emiraten jährlich mehrere Monate in Pakistan. Das Land ist zwar selbst von islamischem Fundamentalismus geprägt, aber Mädchenbildung, ein Mehrparteiensystem und ein leidlich funktionierendes Rechtswesen sind im Land fest verankert. Berichten zufolge haben nicht wenige Kommandeure ihre Töchter heimlich in Pakistan einschulen lassen. Auch diese Erfahrungen beeinflussten die Machthaber offenbar.
Es ist gleichzeitig wahrscheinlich, dass das moderatere Vorgehen der Talibanführung Teil ihrer Strategie ist. Viele Beobachter befürchten, dass sie sich derzeit damit Anerkennung und Hilfsgelder von den reichen Nationen der Welt erhoffen, und wenn sie diese erhalten haben, wieder zur alten Brutalität zurückkehren könnten. In der Tat ist zu beobachten, dass zum Beispiel die Bewegungsfreiheit von Frauen wieder stärker eingeschränkt wird. Demonstrationen finden zwar gelegentlich weiterhin statt, werden aber schneller und härter aufgelöst.
Die Gesellschaft ist heute eine andere
Schließlich könnte es auch die afghanische Gesellschaft selbst sein, die sich modernisiert hat und die Taliban zwingt, sich daran anzupassen. Eine ganze Generation ist in relativ großer politischer Freiheit aufgewachsen, gut ausgebildet und hat dank der Anstrengungen nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen am Leben einer aktiven Zivilgesellschaft teilgenommen.
Tatsächlich scheint diese These der Wahrheit am nächsten zu kommen. Die Taliban trafen 2021 auf eine selbstbewusstere, moderne Bevölkerung, die mit großem Mut für ihre Interessen einsteht. Während sicherlich so manch ein Vertreter der Taliban heute reflektierter auftritt als früher, zeigt sich zunehmend, dass neue Freiheiten nicht dem Großmut der Taliban zu verdanken sind, sondern immer wieder erstritten werden mussten.
Dies ist kein Grund für Optimismus. Der Spielraum der Zivilgesellschaft wird massiv eingeschränkt. Die Taliban bleiben eine totalitäre, gewaltverherrlichende Bewegung ohne nachhaltigen Reformwillen. Weiterhin verüben sie schwerste Menschenrechtsverletzungen.
Dennoch lässt sich festhalten, dass sich selbst die Taliban manchen mäßigenden Einflüssen nicht verschließen können. Externe Akteure sollten daher sicherstellen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles dafür zu tun, dass die afghanische Gesellschaft weiterhin resilient bleibt.
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Felix Kugele hat in Afghanistan für eine internationale humanitäre Organisation gearbeitet.