Der Rechtsstaat und seine leichtfertigen Feinde

Ein Mann und zwei Frauen mit Kopftuch stehen vor einer Gedenktafel für die Opfer des Messerangriffs in Solingen.
Trauernde legen in Solingen am Tag nach der tödlichen Messerattacke vom 23. August 2024 Blumen nieder. Foto: picture alliance/dpa | Thomas Banneyer

Wer in Sicherheitsfragen auf Assad oder die Taliban setzt statt auf den deutschen Rechtsstaat, versteht nicht, wie diese Regime ticken. Die Abschiebe-Debatte nach dem Terroranschlag von Solingen ist nicht nur offen rassistisch, sondern höhlt auch die Demokratie hierzulande aus.  

Von Bente Scheller

Drei Menschen sind bei der Messerattacke in der deutschen Stadt Solingen getötet worden, acht wurden verletzt. Verübt wurde die Bluttat am Freitag, 23. August, durch einen Syrer, der sich zum „Islamischen Staat” (IS) bekannte. Politiker*innen in Deutschland haben sich seitdem nicht etwa mit Versäumnissen in der Gewaltprävention auseinandergesetzt, mit der dramatischen Unterbesetzung in Ausländerbehörden, sondern sie überboten einander darin, wie sie Abschiebungen nach Afghanistan oder Syrien möglich machen wollen.

Am Freitag, 30. August, schob die Bundesregierung tatsächlich erstmals seit der erneuten Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 Menschen nach Afghanistan ab. In einem Flugzeug, das in Leipzig/Halle startete, säßen „28 Straftäter“, teilte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Freitagmorgen mit.*   

Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid hatte zuvor gesagt, „Gespräche mit dem Assad-Regime oder den Taliban” seien „unausweichlich“, um Abschiebungen organisieren zu können. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits bei einer Messerattacke durch einen Afghanen in Mannheim im Juni angekündigt, Abschiebungen Schwerstkrimineller und terroristischer Gefährder*innen in diese Länder wieder zu ermöglichen.

Nahaufnahme einer Gedenktafel in Solingen. Menschen haben ihre Gedanken und Wünsche darauf geschrieben.
„Ruhet in Frieden“: In Solingen haben die Trauernden ihre Gedanken und Wünsche am Tatort gesammelt. Foto: picture alliance/dpa | Thomas Banneyer

Ähnliches verlautet aus der Opposition: Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz sprach von einer „nationalen Notlage“ und forderte einen generellen Aufnahmestopp für Menschen aus Afghanistan und Syrien. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte, die Lage in Syrien müsse „neu bewertet“ werden. Und Sahra Wagenknecht (BSW) behauptet, es gebe „keinen Grund, Menschen aus dem Land generell in Deutschland zu belassen.“ Der Syrienkrieg sei vorbei.  

Vollmundige Ankündigungen, die unvereinbar sind mit Grundgesetz und Genfer Konvention – und die politisch bereits viel Schaden anrichten. Selbst, wenn es ausschließlich Straftäter*innen betreffen sollte: Der offene Rassismus, der in der Diskussion zutage tritt, und vor allem der AfD in die Karten spielt, ist verstörend. Für viele Geflüchtete ist die Debatte traumatisierend – gerade, weil sie sich um zwei Länder dreht, deren Regierungen sich noch nicht einmal mehr den Anschein geben, Menschen- und Völkerrecht zu achten.  

Assad will keine Rückkehrer 

Die Taliban waren nach ihrer erneuten Machtübernahme in Afghanistan 2021 zunächst bestrebt, sich moderater zu gerieren. Mittlerweile haben sie Gesetze erlassen, die radikaler als jeder andere Staat die Rechte von Frauen einschränken. Auch wenn sie keine Ambitionen zeigen, ihre extremistische Agenda auch im Ausland umzusetzen: Islamistische Straftäter dorthin abzuschieben, wo sie für ihre Untaten eher gefeiert als verurteilt werden, würde deutschen Sicherheitsinteressen einen Bärendienst erweisen.   

Dasselbe gilt für Syrien. In keinem der Herrschaftsgebiete, in die das Land zerfallen ist, existiert ein Rechtstaat. Davon zeugen die Berichte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Zuletzt hieß es 2023 über das gesamte Land: „Syrer*innen leiden weiterhin unter Menschenrechtsverletzungen, einschließlich gezielter Tötungen, willkürlicher Verhaftungen, Tod in der Haft.“ In der ersten Jahreshälfte 2024 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights 53 Fälle von Tod unter Folter. Der Syrien-Experte Charles Lister vom Middle East Institute in Washington D.C. schrieb am Dienstag: „Mehr als 68 Menschen wurden in ganz Syrien in der letzten Woche getötet, in zwölf der 14 Provinzen. Kriegshandlungen, Aufständische, Terrorismus und Gewalttaten des organisierten Verbrechens, wohin man blickt.“   

Jenseits dessen, dass Abschiebungen zwischen staatlichen Autoritäten verhandelt werden müssen und dem Umstand, dass das syrische Regime über ein Drittel des Staatsgebietes nicht einmal unter seiner Kontrolle hat: Weder in Idlib im Nordwesten, wo die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham herrscht, noch in den Gebieten, die von der Türkei mittels der Syrian National Army (SNA) kontrolliert werden, wäre es wahrscheinlich, dass abgeschobene Extremist*innen zur Rechenschaft gezogen und sicher verwahrt würden. Ähnlich wie in Afghanistan.  

Präsident Baschar al-Assad hat geschworen, jeden Zentimeter Syriens wieder regieren zu wollen – allerdings möglichst ohne dessen einst geflohene Bewohner*innen. Nie hat das Regime Bereitschaft gezeigt, Geflüchtete zurückkehren zu lassen. Hochrangige Offizielle drohten, man werde ihnen die Flucht weder „vergessen noch vergeben“. Die meisten waren geflohen, weil das Regime sie mit Fassbomben, Aushungern, Chemiewaffen und der Verschleppung von über 100.000 Menschen vertrieben hatte.  

Drogen aus Syrien 

Um zu verstehen, warum in Deutschland weiterhin monatlich 600 Menschen aus Syrien Asyl suchen, reicht der Blick auf die letzten verbliebenen Frontabschnitte nicht aus. Denn auf warfare folgte lawfare: Mit einer ganzen Reihe von Gesetzen ist in Syriens Regimegebieten der Besitz Geflüchteter konfisziert und weiterverkauft worden. So wurden Fakten geschaffen, um eine Rückkehr der eigentlichen Besitzer*innen zu erschweren. Hinzu kommt, dass die syrische Wirtschaft am Boden liegt. Viele Fabriken wurden zerstört, Unternehmen sind in die Türkei abgewandert.  

Umso wichtiger sind für das Assad-Regime illegale Einkommensquellen geworden: Syrien belegt den elften von 193 Plätzen auf dem globalen Index organisierter Kriminalität. „Zu den kriminellen Akteuren in Syrien gehören verschiedene Einrichtungen, vor allem aber staatliche Akteure,“ hält der Index fest. Bestes Beispiel ist das Captagon-Geschäft, kontrolliert von Assads Bruder Maher und mehreren Cousins. Sie haben Syrien zum weltweit größten Produzenten der Droge gemacht.   

Die Bevölkerung leidet unter dem, was Wirtschaftswissenschaftler Karam Shaar und Politikwissenschaftler Steven Heydemann als „Architektur der Korruption“ beschreiben: Wirtschaftsnetzwerke, die loyale Anhänger*innen belohnen und Geld in Assads Kassen spülen. Um die Sicherheitskräfte bei Laune zu halten, duldet oder ermutigt das Regime sowohl regimetreue Milizen als auch die Armee, ihr Einkommen durch Erpressung und Korruption aufzubessern. Angehörige müssen beispielsweise oft vierstellige Summen bezahlen, um Häftlinge besuchen zu können.   

Perfektion der Korruption 

Dem Regime ist jedes Mittel recht, um westliche Gesellschaften zu spalten – neben Terrorismus auch Migration. 2020 und 2021 wurden mit zahlreichen Flügen aus Damaskus syrische Flüchtlinge über Belarus an die polnische Grenze gebracht, damit sie von dort in die EU gelangen würden. Erst nachdem die EU die Fluggesellschaft Cham Wings mit Sanktionen belegte, endeten die organisierten Schleusungen. Hauptanteilseigner der Airline war damals mutmaßlich Rami Makhlouf, ein Cousin des syrischen Präsidenten.  

Besonders makaber erweist sich das Geschäft mit syrischen Geflüchteten im Libanon. Das Assad-Regime weigert sich, für die über eine Million Menschen eine Lösung anzubieten. Die wenigen Rückkehrer, die es akzeptiert, laufen Gefahr, direkt in die Verhörzentren der syrischen Geheimdienste zu kommen. Gegen Lösegeld kommen manche wieder frei. Vielen wird angeboten, sie für etwa 200 US-Dollar wieder zurück in den Libanon zu schmuggeln – ein sich selbst erhaltendes Geschäftsmodell, die Perfektion der Korruption.  

Wer sich in Deutschland von der Führung in Damaskus Kooperation in Sicherheitsfragen verspricht, versteht nicht, wie das Regime tickt. Assad bei der Lösung von Problemen zu Rate zu ziehen, heißt nicht, dass man in ihm einen Partner gewinnt. Stattdessen wird ein solchen Vorgehen bei ihm Begehrlichkeiten wecken, dass er sich unentbehrlich machen kann, indem er die Probleme weiter schürt. Schon in der Vergangenheit hat sich für Assad in dieser Hinsicht wenig nützlicher erwiesen als islamistische Extremisten.  

Denn nur im Vergleich mit der Brutalität des IS konnte sich Assad als „das kleinere Übel“ darstellen - obwohl ein Völkerrechtler ihm „Morden in industriellem Ausmaß“ attestierte. Wann immer es ihm opportun erschien, ließ Assad dem IS freie Hand, etwa, als der IS 2018 verhinderte, dass 400 Mitglieder der syrischen Weißhelme, die dem Regime stets ein Dorn im Auge waren, in Sicherheit gebracht wurden. Oder, um Minderheiten einzuschüchtern, wie im Fall der Drusen im südsyrischen Suweida 2018, denen Regimetruppen erst zur Hilfe kamen, als der IS bereits Hunderte getötet und entführt hatte. 

Können die Kurden Straftäter aufnehmen?  

Bleibt noch der Nordosten Syriens, der unter Kontrolle der kurdisch dominierten Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) steht. In diesem mit fruchtbaren Böden, Öl- und Gasvorkommen wirtschaftlich privilegierten Landesteil ist vergleichsweise wenig zerstört worden, da er nie den Luftangriffen des syrischen Regimes ausgesetzt war. Die Kurden sind zudem der Unterstützung islamistischer Extremisten unverdächtig, waren sie doch Partner des Westens im Kampf gegen den IS.   

Kaum jedoch war der IS im Jahr 2017 territorial besiegt, sahen die meisten westlichen Staaten sich nicht mehr in der Verantwortung. 45.000 Menschen befinden sich bis heute im Gefangenenlager al-Hol, darunter Tausende sogenannte Drittstaatler*innen, die zum Teil westliche Nationalitäten haben. Viele der Herkunftsstaaten weigern sich, ihre eigenen Bürger*innen zurückzunehmen.   

Deutschland, so schreibt die Syrien-Expertin Kristin Helberg, hat insgesamt 27 Frauen, 80 Kinder und nur einen Mann nach Deutschland geholt, nicht aber die weiteren etwa 30 männlichen Staatsangehörigen. Dass seit Jahren Tausende ohne Gerichtsverfahren in al-Hol sitzen, ist nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht problematisch, sondern auch aus Sicherheitsgründen: Kinder wachsen in dem Lager in einem von Gewalt geprägten, radikalisierten Umfeld auf, ohne jegliche Perspektive.  

Noch werden die syrischen Kurden durch rund 900 US-Soldat*innen unter anderem dabei unterstützt, die Gefängnisse und Lager in Nordostsyrien zu bewachen. Für den Fall aber, dass bei der US-Wahl im November Donald Trump gewinnt, gibt es keine Garantie, dass die US-Truppen in Syrien verbleiben. Wer erwartet, dass die kurdische Selbstverwaltung straffällig gewordene Syrer*innen aus Deutschland aufnimmt, müsste im Gegenzug zumindest eine Lösung für die verbliebenen deutschen IS-Kämpfer anbieten.   

Das Fazit: Die Debatte in Deutschland ignoriert die Realität in Syrien. Sie schürt Ressentiments und stellt steile Forderungen, die sich ohnehin nicht umsetzen lassen. Politiker*innen höhlen das Fundament der Demokratie aus, wenn sie leichtfertig den Eindruck erwecken, Terrorismus könne man nicht allein mit rechtsstaatlichen Mitteln beikommen.  

* Dieser Artikel wurde aktualisiert am 31. August, 12.17 Uhr. 

Bente Scheller leitet seit 2019 das Referat Nahost und Nordafrika der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung (hbs) in Berlin. Von 2012 bis 2019 war sie die Referatsleiterin des Regionalbüros Mittlerer Osten der hbs in Beirut/Libanon. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan und arbeitete von 2002 bis 2004 als Referentin für Terrorismusbekämpfung an der deutschen Botschaft in Damaskus. Sie promovierte an der FU Berlin zu syrischer Außenpolitik.

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