Ein Film erregt die Türkei
Man sieht die Figur im Profil oder von hinten, das Gesicht wird zumeist nur gestreift. Er sitzt nachdenklich am Tisch, starrt vor sich hin und trinkt ein Glas Raki, den in der Türkei so populären Anisschnaps. Der Mann fühlt sich offenbar einsam. Er leidet und er wird bald sterben. Der Mann ist Mustafa Kemal Atatürk, die Szenen spielen im Dolmabahce Palast. Hier residierten früher die Sultane, hier starb 1938 der Gründervater der türkischen Republik.
Seit einigen Wochen läuft in allen Kinos der Türkei ein großes Dokudrama über das Leben Atatürks. Der Stück heißt schlicht "Mustafa" und deutet damit schon an, dass es darin weniger um den Staatsmann Atatürk, als vielmehr um die Privatperson Mustafa geht. Der Film ist eine Mischung aus altem Dokumentarmaterial und eingestreuten Spielszenen. Er ist ziemlich konventionell gemacht und erzählt ganz chronologisch das Leben Mustafa Kemals.
Oberflächliche Spielszenen
Als der spätere Mustafa Kemal Atatürk im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Saloniki geboren wurde, war die Stadt noch eines der wichtigsten Zentren des Osmanischen Reiches. Da es aus der Kindheit des Helden aber so gut wie kein Bildmaterial gibt, musste der Filmemacher Can Dündar, einer der bekanntesten Fernsehjournalisten der Türkei, sich hier mit Spielszenen behelfen, die allerdings sehr oberflächlich bleiben. Seine Ausbildung wird nur gestreift.
Währenddessen kamen aus der islamistischen Ecke Behauptungen, der Film würde dem Zuschauer suggerieren, Atatürks spätere anti-islamische Haltung gehe darauf zurück, dass er als Kind in der Koranschule so viel geprügelt worden sei. Aus der Sicht eines unvoreingenommenen Betrachters lässt sich das allerdings nicht nachvollziehen. Überhaupt ist es für einen Außenstehenden, für einen Ausländer, sehr schwer zu verstehen, warum der Film in der Türkei so hohe Wellen geschlagen hat.
Wenig Aufregendes
Can Dündar zeigt wenig Aufregendes oder gar Verwerfliches, doch in der Türkei schlugen die Emotionen hoch, als habe ein Anschlag auf das Allerheiligste des Landes stattgefunden. Angefangen vom kemalistischen Oppositionsführer Deniz Baykal, über führende Kolumnisten in "Hürriyet", "Vatan" und anderen großen Tageszeitungen, wurde der Filmemacher Can Dündar wahlweise als Verräter oder Denunziant beschimpft, der es wage, Atatürk als "hedonistischen Frauenheld" darzustellen, der – was aber mittlerweile jedes Schulkind weiß – zu mindestens gegen Ende seines Lebens mehr Raki getrunken hat als ihm guttat.
Der Vorsitzende des Atatürk-Vereins von Cankaya, dem Bezirk Ankaras, in dem der Präsidentenpalast steht, hat mittlerweile Strafanzeige gegen Can Dündar wegen Verunglimpfung des Andenkens von Atatürk gestellt.
Keine kritische Betrachtung
Dabei ist der Filmemacher alles andere als ein großer Atatürk-Kritiker. Die wirklich schwierigen Fragen werden in dem Film erst gar nicht gestellt. Weder geht der Autor der Frage nach, wie demokratisch, beziehungsweise diktatorisch, Mustafa Kemal eigentlich regiert hat, noch spielen die drakonischen Feldzüge gegen aufständische Kurden, bei denen Abertausende getötet und auch öffentlich exekutiert wurden, eine Rolle. Das hier der Beginn des Dramas um die kurdische Minderheit in der Türkei liegt, kommt in dem Film gar nicht vor.
Doch allein der Titel des Streifens ist für gläubige Kemalisten bereits eine Provokation. "Ich spreche nicht von 'Mustafa', sondern von 'Mustafa Kemal Atatürk'", rief ein Politikprofessor während eines großen Symposiums über "Die Türkei und die europäische Kultur", das kurz nach dem Filmstart stattfand, dramatisch ins Publikum und erntete damit Standing Ovations.
Kemalismus als Religionsersatz
In einem Land, in dem an jeder Ecke eine Atatürk Statue steht und kein Geschäft ohne ein Porträt des Staatsgründers auskommt, ist es immer noch ein ambitioniertes Unternehmen, den Übervater der Nation als einen Menschen mit Stärken und eben auch Schwächen darzustellen. Seit seinem frühen Tod 1938 nahm der Personenkult um Atatürk von Jahr zu Jahr zu.
In der Auseinandersetzung mit den Islamisten wird Atatürk mittlerweile als Gegenentwurf zum Propheten Mohammed gehandelt, die politische Doktrin des Kemalismus gerät mehr und mehr zum Religionsersatz. "Wie konnte der Mann, der Zeit seines Lebens gegen Dogmen ankämpfte selbst zum Dogma werden?", fragte sich der Autor des Films denn auch in einer Kolumne in der Zeitung "Milliyet" und beklagt die Erstarrung des Kemalismus.
Held Atatürk, Mensch Atatürk
Doch die dogmatischen Kemalisten stehen längst mit dem Rücken zur Wand. Die islamisch orientierte AKP betreibt, seit sie im Jahr 2002 an die Regierung kam, eine Historisierung, die die Türkei wieder als Erbe des Osmanischen Reiches darstellt und den Bruch, den Mustafa Kemal nach Gründung der Republik mit dem Erbe der Osmanen vollzog, als Irrtum abzutun versucht. Auch deshalb reagieren die Gralshüter des Kemalismus nun so allergisch auf den Film, weil er, von einem moderaten Kemalisten gemacht, angeblich den innenpolitischen Gegnern in die Hände arbeitet.
Yigit Bulut, Kolumnist von "Vatan" ruft deshalb dazu auf, den Film zu boykottieren und auch Freunde von einem Kinobesuch abzuhalten: "Insbesondere erlaubt nicht euren Kindern, den Film zu sehen, damit sie nicht von diesen Bildern korrumpiert werden." Doch vor allem diese Aufforderung wird massenhaft nicht befolgt. Der Film wird gerade auch an Schulen diskutiert und viele Vorstellungen sind gut besucht von Jugendlichen, die immer wieder den Heros Atatürk vorgeführt bekommen haben und nun an dem Menschen dahinter interessiert sind.
Jürgen Gottschlich
© Qantara.de 2008