Geschichte und der Krieg in Gaza

Junge Menschen in Gaza sitzen auf einem mit Möbeln und anderen Habseligkeit bepacktem Karren und verlassen die zerstörte Stadt
Flucht aus dem östlichen Teil von Khan Younis, Gaza, am 02. Juli 2024, nachdem die Bewohner von der israelischen Armee aufgefordert wurden, ihre Stadtviertel zu verlassen, Foto: Zumapress.com | Naaman Omar via picture alliance.

Laut dem amerikanisch-palästinensischen Historiker Rashid Khalidi sind der Nahostkonflikt und der Krieg in Gaza in vielerlei Hinsicht eine Folge imperialer Interventionen. „Eine Lösung kann nur darauf beruhen, festgefahrene Strukturen der Vorherrschaft und Diskriminierung aufzubrechen", betont er. Nur so lasse sich eine Zwei-Staaten-Lösung realisieren.

Von Rashid Khalidi

In den 250 Tagen seit dem 7. Oktober 2023 haben wir scheinbar endlose Szenen des Grauens erlebt. Stellen diese schockierenden Ereignisse einen Bruch dar und sind sie tatsächlich beispiellos? Sicherlich sind die Bilder, die wir alle von Gräueltaten und unerträglicher Verwüstung gesehen haben, und die Intensität der globalen Reaktion auf dem Universitätscampus und anderswo außergewöhnlich. Wir scheinen uns in einer neuen Phase zu befinden, in der sich Gewalt, Besatzung und Kolonisierung intensivieren, in der das Völkerrecht weiter ignoriert wird und in der sich lange fixierte tektonische Platten langsam bewegen.

Katastrophale neue Phase

Während sich viel verändert hat, können diese Ereignisse nur als eine katastrophale neue Phase in einem Krieg verstanden werden, der seit Generationen andauert. Dies ist die These meines Buches „Der Hundertjährige Krieg gegen Palästina“: dass die Ereignisse in Palästina seit 1917 das Ergebnis eines langen Krieges waren, den die zionistische Bewegung und ihre Großmachtpatrone gegen die einheimische palästinensische Bevölkerung führten. Dies war sowohl eine nationale Bewegung als auch eine selbsternannte Siedler-Kolonialbewegung, die darauf abzielte, das palästinensische Volk in seiner angestammten Heimat zu ersetzen. Während dieses langen Krieges haben sich die Palästinenser erbittert gegen die Usurpation ihres Landes gewehrt. Dieser Rahmen erklärt nicht nur die Ereignisse seit dem 7. Oktober, sondern auch die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und mehr, ohne die diese Ereignisse in der Tat unverständlich sind. 

So gesehen ist klar, dass es sich nicht um einen uralten Kampf zwischen Arabern und Juden handelt, der seit undenklichen Zeiten im Gange ist, und es ist nicht einfach ein Konflikt zwischen zwei Völkern. Er ist ein Produkt des Einfalls des Imperialismus in den Nahen Osten und des Aufstiegs moderner nationalstaatlicher Nationalismen, sowohl arabischer als auch jüdischer; er ist ein Produkt der gewalttätigen europäischen Siedlerkolonialmethoden, um „Palästina in das Land Israel zu verwandeln“, wie Ze'ev Jabotinsky, einer der Begründer des modernen politischen Zionismus, es ausdrückte; und er ist ein Produkt des palästinensischen Widerstands gegen diese Methoden.

„Es ist klar, dass es sich nicht um einen uralten Kampf zwischen Arabern und Juden handelt, der seit undenklichen Zeiten im Gange ist, und es ist nicht einfach ein Konflikt zwischen zwei Völkern. Er ist ein Produkt des Einfalls des Imperialismus in den Nahen Osten und des Aufstiegs moderner nationalstaatlicher Nationalismen, sowohl arabischer als auch jüdischer.”

Darüber hinaus war dieser Krieg nie nur einer zwischen Zionismus und Israel auf der einen Seite und den Palästinensern auf der anderen Seite, der gelegentlich von arabischen und anderen Akteuren unterstützt wurde. Er kam mit massiver Intervention der größten Mächte der Zeit auf der Seite der zionistischen Bewegung und Israels. Diese Mächte waren nie neutrale oder ehrliche Makler, sondern waren immer aktive an der Seite Israels. In diesem Krieg zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, Unterdrückern und Unterdrückten gab es keine Äquivalenz zwischen den beiden Seiten, sondern ein gewaltiges Ungleichgewicht zugunsten des Zionismus und Israels.

Diese These wird durch die unverhältnismäßig hohe Zahl von Toten, Zerstörungen und Vertreibungen seit dem 7. Oktober mehr als bestätigt: Das Verhältnis von getöteten Palästinensern zu getöteten Israelis liegt bisher bei etwa 25:1. Sie wird durch das überwältigende Ausmaß an politischer, diplomatischer und militärischer Unterstützung der USA und Westeuropas für Israel bestätigt, im Vergleich dazu relativ begrenzten militärischen und finanziellen Unterstützung für die Palästinenser durch den Iran und mehrere nichtstaatliche Akteure. 

Die Aufnahme zeigt das Ausmaß der Zerstörung in Gaza und zwei Menschen, die zwischen völlig zerstörten Gebäuden und Trümmern laufen.
Seit dem 7. Oktober gibt es eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Toten, Zerstörungen und Vertreibungen, wie hier im östlichen Teil von Khan Yunis, Foto: Habboub Ramez/ABACA via picture alliance.

Tektonische Verschiebung, aber kein Bruch

So dramatisch sie auch waren, die Ereignisse der vergangenen fast neun Monate sind nicht einzigartig und stehen nicht außerhalb der Geschichte. Wir können sie nur im Kontext des jahrhundertelangen Krieges gegen Palästina richtig verstehen, ungeachtet der Bemühungen Israels, die Relevanz des Kontexts zu leugnen. Die Aktionen der Hamas und Israels seit dem 7. Oktober sind weit davon entfernt, einen Bruch darzustellen, sondern stehen im Einklang mit jahrzehntelanger israelischer ethnischer Säuberung, militärischer Besatzung und Diebstahl palästinensischen Landes, mit Jahren der Belagerung des Gazastreifens und mit einer oft gewaltsamen palästinensischen Reaktion auf diese Aktionen.

Diese Episode im langen Krieg gegen Palästina hat tiefe traumatische Auswirkungen auf Palästinenser und Israelis. Der palästinensischen und israelischen Zivilbevölkerung wurde immenser Schaden zugefügt. Die palästinensische Zahl von über 35.000 Toten, zusammen mit vielleicht 10.000 Vermissten und mutmaßlichen Toten, die überwältigende Mehrheit von ihnen Zivilisten, ist die höchste aller Phasen dieses jahrhundertlangen Krieges. In den knapp neun Monaten seit dem 7. Oktober machten die getöteten und verwundeten Palästinenser – etwa 130.000 Menschen – über fünf Prozent der 2,3 Millionen Einwohner des Gazastreifens aus. Israels Zahl der zivilen Todesopfer von mehr als 800 ist die höchste seit dem Krieg von 1948. Fast 700 israelische Soldaten, Polizisten und Sicherheitskräfte wurden bisher getötet. Über 250 israelische Zivilisten, Soldaten und Ausländer wurden gefangen genommen, vielleicht 100 werden immer noch als Geiseln gehalten.

„Diese Episode im langen Krieg gegen Palästina hat tiefe traumatische Auswirkungen auf Palästinenser und Israelis. Der palästinensischen und israelischen Zivilbevölkerung wurde immenser Schaden zugefügt.”

Darüber hinaus wurden im gesamten Verlauf dieses langen Krieges noch nie so viele Palästinenser und Israelis aus ihren Häusern vertrieben. Die Zahl derjenigen, die 1948 aus Palästina und nach der Besatzung 1967 aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen ethnisch gesäubert wurden, kommt nicht annähernd an die über 1,7 Millionen Palästinenser aus Gaza, die Israel seit dem 7. Oktober vertrieben hat, heran. Inzwischen wurden bis zu 200.000 Israelis aus Siedlungen und Städten in den Grenzgebieten zum Gazastreifen und Libanon evakuiert.

Traumatischer Schock

Beide Gesellschaften erlitten und erleiden einen traumatischen Schock mit enormen Auswirkungen. In Israel hat die Gewalt vom 7. Oktober mit den unglaublichen Grausamkeiten, die live über soziale Medien übertragen und wiederholt im Fernsehen gezeigt wurden, das Land bis ins Mark erschüttert. Dieser Angriff erschütterte auch das Vertrauen in die Sicherheit, die Israel angeblich seinen Bürgern bot, und verstärkte ein bereits bestehendes Gefühl der ewigen Opferrolle, das historische Erinnerungen an Gewalt und Verfolgung wachruft. Fast scheint es, als ob im israelischen öffentlichen Bewusstsein am 7. Oktober 2023 die Zeit stehen geblieben wäre, denn die brennende Wirkung dieses kollektiven Traumas spielt sich in einer Schleife ab. 

„Fast scheint es, als ob im israelischen öffentlichen Bewusstsein am 7. Oktober 2023 die Zeit stehen geblieben wäre, denn die brennende Wirkung dieses kollektiven Traumas spielt sich in einer Schleife ab.” 

Palästinenser auf der ganzen Welt sind traumatisiert durch den endlosen Strom von Bildern der Verwüstung in Gaza. Von den Dutzenden Familien, die durch Israels KI-basierte Angriffe vollständig ausgelöscht wurden. Von Hunger und Krankheiten, absichtlich verursacht durch die israelischen Beschränkungen des Transits von Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und Strom in den Gazastreifen. Wenn man sich die Mondlandschaft ansieht, in die Israel Gaza verwandelt hat, sind die Palästinenser schockiert über die Ermordung von Tausenden von Zivilisten und die enorme Zerstörung der Infrastruktur, die als „eine der intensivsten zivilen Bestrafungskampagnen der Geschichte” beschrieben wurde. Abgesehen davon, dass sie sich monatelang mit diesen schrecklichen Realitäten auseinandersetzen müssen, werden die Palästinenser von Erinnerungen an die Nakba (Arabisch „Katastrophe“) von 1948 heimgesucht und von der Frage, wann und ob dieser Krieg enden wird und wie die Bewohner des Gazastreifens jemals wieder ein normales Leben werden führen können. 

Kollaps der israelischen Sicherheitsdoktrin

Diese schockierenden Ereignisse haben auf der ganzen Welt Widerhall gefunden, da die Gräueltaten, die gegen Israelis begangen wurden, und die weitaus umfangreicheren, die Israel den Bewohnern des Gazastreifens zugefügt hat, in Echtzeit in den Mainstream-, alternativen und sozialen Medien verfolgt wurden. Dies ist das erste Mal, dass eine Generation junger Menschen auf der ganzen Welt monatelang solche Bilder des Gemetzels auf ihren Telefonen gesehen hat. Palästina ist zu einem zentralen Anliegen für junge und alte Aktivisten, für Kirchen und Gewerkschaften geworden. Gleichzeitig hat es einige Familien entlang von Generationenlinien gespalten und den selbstgefälligen Konsens unter westlichen Liberalen erschüttert, dass Israel trotz seiner Mängel eine Kraft des Guten ist. Dieser Prozess hat sich während dieses Krieges beschleunigt, was Israels zunehmend angeschlagenem Image weiteren Schaden zufügt und seine ohnehin schon beeinträchtigte Legitimität weltweit weiter in Frage stellt. 

Der Überraschungsangriff vom 7. Oktober und das multiple Scheitern des israelischen Sicherheitsapparats enthüllten die Schwächen der israelischen Militärplanung, des Geheimdienstes und seiner gepriesenen Überwachungstechnologie. Dies war eine der schlimmsten Niederlagen in der Militärgeschichte Israels, die zur Tötung und Gefangennahme von mehr als 1500 israelischen Soldaten und Zivilisten innerhalb weniger Stunden führte, als mehrere Grenzsiedlungen überrannt und einige erst am 10. Oktober 2023 zurückerobert wurden. 

Erschüttert von dieser katastrophalen Niederlage hat die israelische Regierung angedeutet, dass sie sich weigern wird, ihre Truppen vollständig aus Gaza abzuziehen und eine längere Wiederbesetzung vorzunehmen. Angesichts der Geschichte des Gazastreifens seit 1948 als Epizentrum des Widerstands gegen Israels Enteignung und Herrschaft über die Palästinenser ist dies ein Rezept für eine endlose neue Phase dieses Konflikts.

„Dies war eine der schlimmsten Niederlagen in der Militärgeschichte Israels, die zur Tötung und Gefangennahme von mehr als 1500 israelischen Soldaten und Zivilisten innerhalb weniger Stunden führte, als mehrere Grenzsiedlungen überrannt und einige erst am 10. Oktober 2023 zurückerobert wurden.”

Das militärische Fiasko vom 7. Oktober stellt auch die israelische Sicherheitsdoktrin in Frage. Diese wird oft fälschlicherweise als „Abschreckung“ bezeichnet, aber leitet sich tatsächlich von der aggressiven Herangehensweise ab, die zuerst den Gründern der israelischen Streitkräfte beigebracht wurde: Ausgewählten Mitgliedern zionistischer Milizen, die in den späten 1930er Jahren von erfahrenen britischen Experten kolonialer Aufstandsbekämpfung wie Orde Wingate und Sir Charles Tegart ausgebildet wurden, von denen viele Jahre zuvor ihr Handwerk in Irland und Indien verfeinert hatten. Die Doktrin besagt, dass der Feind durch einen präventiven Angriff mit überwältigender Gewalt und die Terrorisierung der Zivilbevölkerung, die als Unterstützung der Aufständischen angesehen wird, überwältigend besiegt, dauerhaft eingeschüchtert und gezwungen werden kann, die Bedingungen des Kolonisators zu akzeptieren. In der Vergangenheit bedeutete diese Doktrin in Gaza – von israelischen Analysten als „Rasenmähen“ bezeichnet – die regelmäßige Tötung einer großen Anzahl von Menschen, um sie zu zwingen, einen Status quo der Belagerung und Blockade zu akzeptieren. 

Die Ereignisse vom 7. Oktober hätten den Bankrott eines gewaltbasierten Ansatzes für ein im Wesentlichen politisches Problem entlarven müssen. Doch die israelische Führung hat offensichtlich nichts gelernt. Stattdessen hat sie frühere Praktiken zweifach intensiviert, in Übereinstimmung mit dem bekannten israelischen Sprichwort: „Wenn Gewalt nicht funktioniert, wende mehr Gewalt an.“ Israels Führer scheinen Clausewitz' Diktum vergessen zu haben, dass Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Angetrieben von dem Wunsch nach Rache für eine demütigende militärische Niederlage schwingen sie die leere Losung des „vollständigen Sieges“ und die Vorstellung, eine aggressive Haltung der „Abschreckung“ wiederherzustellen, die offensichtlich vergeblich ist, weil sie in der Vergangenheit nicht zur Abschreckung von Angriffen beigetragen hat. 

„Die Ereignisse vom 7. Oktober hätten den Bankrott eines gewaltbasierten Ansatzes für ein im Wesentlichen politisches Problem entlarven müssen. Doch die israelische Führung hat offensichtlich nichts gelernt.”

Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass die israelische Regierung ursprünglich die durch den Krieg gebotene Gelegenheit nutzen wollte, um weitere ethnische Säuberungen an den Palästinensern durchzuführen. Sie sollten nach Ägypten oder Jordanien vertrieben werden. Und die USA sollten versuchen, beide Länder davon zu überzeugen, diesem Plan zuzustimmen, doch diese lehnten kategorisch ab. Die starke Siedlerfraktion innerhalb der Regierung befürwortet dies nach wie vor und hofft möglicherweise sogar, den Gazastreifen neu zu besiedeln. 

Anstatt ein präzises politisches Ziel zu definieren, hat die israelische Regierung erklärt, ihr Ziel sei die vollständige Zerstörung der Hamas, einer politisch-militärisch-ideologischen Einheit mit Zweigstellen in ganz Palästina und der palästinensischen Diaspora – eine offensichtlich unmögliche Mission. Es mag für Israel machbar sein, die Streitkräfte der Hamas im Gazastreifen entscheidend zu besiegen. Wenn es der Hamas jedoch gelingt, nach vielen Monaten der Kämpfe auch nur einen Bruchteil ihrer militärischen Kapazitäten zu behalten, kann sie einen Pyrrhussieg für sich beanspruchen. Wie Henry Kissinger einmal schrieb: „Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert. Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.“ Wie auch immer das militärische Ergebnis aussehen wird, die Hamas wird als politische Kraft und Ideologie nicht zerstört werden. 

Vertrauen auf Gewalt

Angesichts der verheerenden Auswirkungen des Angriffs vom Oktober auf Israel und trotz des brutalen Tributs der israelischen Reaktion ist es unwahrscheinlich, dass die Philosophie des bewaffneten Widerstands der Hamas verschwinden wird, solange es keine Aussicht auf ein Ende der militärischen Besatzung, Kolonisierung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes gibt. Solange es keinen politischen Horizont gibt, der echte palästinensische Selbstbestimmung und Gleichberechtigung verspricht. 

Während die Aussichten für Israel unklar sind, ist auch der politische Horizont der Nachkriegszeit für die Palästinenser trübe. Rein militärisch gesehen war das Ausmaß und die Tragweite des Angriffs der Hamas im Oktober beispiellos. Dennoch, um noch einmal auf Clausewitz zurückzukommen, ist es schwierig, die politischen Ziele der Hamas zu erkennen. Zu verschiedenen Zeiten in der Vergangenheit hat die Hamas ihre Bereitschaft erklärt, einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu akzeptieren, wie in ihrer Grundsatzerklärung von 2017, die Folgendes enthielt: „Die Gründung eines vollständig souveränen und unabhängigen palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt im Sinne des 4. Juni 1967 mit der Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre Häuser, aus denen sie vertrieben wurden, als Formel des nationalen Konsenses.“ Ein Hamas-Führer wiederholte dieses Angebot kürzlich, zusammen mit der Offerte, die Waffen niederzulegen.

Im selben Dokument von 2017 forderte die Hamas jedoch die „vollständige und komplette Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer“ und hat sich konsequent geweigert, Israels Legitimität anzuerkennen oder der Gewalt abzuschwören. Beide Tendenzen waren in widersprüchlichen Erklärungen von Hamas-Führern seit Oktober und in früheren und aktuellen Bemühungen präsent: der PLO beizutreten und sich mit anderen palästinensischen politischen Kräften zu vereinen oder sie alternativ als Rivalen zu behandeln, die es zu ersetzen gilt.

„Die Hamas forderte die ‚vollständige und komplette Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer‘ und hat sich konsequent geweigert, Israels Legitimität anzuerkennen oder der Gewalt abzuschwören.”

Beide Tendenzen haben sich seit dem 7. Oktober unter Palästinensern verstärkt, jene die den bewaffneten Widerstand befürworten und jene die vorsichtig auf einen Durchbruch in Richtung eines palästinensischen Staates hoffen – obwohl die Aussichten auf einen wirklich unabhängigen Staat düster sind. 

Eine Konstante gibt es in diesem hundertjährigen Krieg, die im Kontext eines palästinensischen Staates relevant ist: Nämlich die, dass die Palästinenser in der Vergangenheit häufig nicht wählen durften, wer sie vertritt. Ihre Präferenzen könnten wiederum für die Machthaber inakzeptabel sein, seien es Israel, westliche Staaten oder ihre arabischen Klienten, die wahrscheinlich versuchen werden, ihnen die Wahl aufzuzwingen, wer sie vertritt. 

Wenn sich die Palästinenser nicht auf eine einheitliche, glaubwürdige politische Stimme einigen können, die einen nationalen Konsens vertritt, und ihnen auferlegt wird, wer sie vertritt, besteht ein großes Risiko: Dass wichtige Entscheidungen über ihre Zukunft von äußeren Mächten getroffen werden, die ihre Bestrebungen ignorieren, wie es in der Vergangenheit oft geschehen ist.

Israel hat seinen Krieg in Gaza als ausschließlich gegen die Hamas gerichtet dargestellt und behauptet, dass es das humanitäre Völkerrecht gewissenhaft einhalte und „verhältnismäßige“ und selektive Gewalt anwende. Und dass zivile Todesopfer unbeabsichtigte „Kollateralschäden“ seien, weil die Hamas sie als „menschliche Schutzschilde“ benutze. Westliche Regierungen und Medien wiederholen diese im Wesentlichen falschen Behauptungen, obwohl sie durch den Tod von mehr als 35.000 Zivilisten, darunter 13.000 Kinder, die Vertreibung von 1,7 Millionen Menschen und die offensichtlich vorsätzliche Zerstörung des größten Teils der Infrastruktur des Gazastreifens durch Angriffe auf Krankenhäuser, Wasseraufbereitungs- und Kläranlagen, Strom-, Telefon- und Internetsysteme Lügen gestraft werden. Durch die Angriffe auf Schulen, Universitäten, Moscheen und Kirchen. 

Nach langen Monaten des Krieges, der Verwüstung, des Gemetzels und der von Israel verursachten Hungersnot lüftet sich der Schleier, der von westlichen Regierungen und den Mainstream-Medien aufrechterhalten wird, die einseitige israelische Argumente nachplappern. Die meisten Beobachter sehen diesen Krieg jetzt zu Recht als gegen die Bevölkerung Gazas gerichtet in einer von Rache getriebenen Form der kollektiven Bestrafung. Die daraus resultierende empörte Reaktion auf die daraus resultierenden Gräueltaten war in der gesamten arabischen Welt und in den meisten Ländern des globalen Südens fast universell.

Die Aufnahme zeigt ein Protestcamp und Plakate vor der Universität Cambridge
Studierende haben am Campus der Cambridge Universität ein Protestcamp aufgebaut und kritisieren die Doppelmoral westlicher Eliten, Foto: ZUMAPRESS.com | Martin Pope via picture alliance.

Weltweite Empörung

Wachsende Teile der amerikanischen und europäischen Bevölkerung haben ähnlich reagiert. Diese globale Empörung hatte jedoch kaum Auswirkungen auf die Politik der Biden-Regierung der pauschalen Unterstützung Israels, abgesehen von milden und offenkundig unaufrichtigen rhetorischen Vorwürfen an die Adresse Israels. Für viele Menschen weltweit rücken die USA in den Fokus der Schuld: Durch die massive amerikanische Finanzierung und Lieferung von Waffen, unter Umgehung der Kontrollmechanismen des Kongresses. Durch die pauschale diplomatische Protektion Israels durch die USA bei den Vereinten Nationen. Durch die mehrfache Wiederholung der Argumente und Sichtweisen Israels und die vermeintliche Gefühllosigkeit der Biden-Regierung in Bezug auf das palästinensische Leiden.

Seit dem 7. Oktober hat die starke Unterstützung der arabischen Völker für die Palästinenser die vorsätzliche Ignoranz derjenigen entlarvt, die behaupteten, Palästina sei für die Araber nicht wichtig und die Palästinafrage könne mit kaum mehr als Lippenbekenntnissen umgangen werden. Tatsächlich haben die arabischen Länder monatelang die größten Protestdemonstrationen seit über einem Jahrzehnt erlebt. Schließlich könnten die autokratischen Regime die Sympathie ihrer Bürger für die Palästinenser unterdrücken. Stattdessen sind sie gezwungen, die leidenschaftliche Identifikation ihrer Völker mit Palästina sorgfältig mit ins Kalkül zu ziehen.

Seit Oktober ist ein weiterer Umstand evident: der ungleiche Wert, den westliche Eliten dem Leben von Israelis auf der einen Seite und dem Leben von Arabern auf der anderen Seite beimessen. Diese Doppelmoral hat in den Räumen, die von diesen Eliten in den Vereinigten Staaten und Europa dominiert werden, eine toxische, repressive Atmosphäre geschaffen, insbesondere in der politischen Arena und in den Medien sowie auf dem Universitätscampus. Die daraus resultierende Welle von Hexenjagden im Kongress, in der Kultur und an Universitäten konzentriert sich auf Vorwürfe, dass das Eintreten für die Freiheit der Palästinenser und die Kritik an der israelischen Politik oder dem Zionismus irgendwie antisemitisch seien. 

Mit diesem Verhalten wird akzeptiert, dass Israel und der Zionismus mit dem Judentum übereinstimmen, während sie die bedeutende Stellung progressiverer und jüngerer Juden bei der Unterstützung der palästinensischen Rechte und der Ablehnung der Handlungen der israelischen Regierung ignoriert werden. Es ist völlig absurd zu behaupten, dass Opposition gegen den Zionismus oder den israelischen Siedlerkolonialismus prinzipiell antisemitisch ist. Wenn diejenigen, die Palästina kolonisierten, verfolgte skandinavische Christen wären, die sich auf einer göttlichen Mission sahen, das Land von seiner einheimischen Bevölkerung zu erobern, wäre es lächerlich zu behaupten, dass der Widerstand gegen ihre Bemühungen „antichristlich“ sei. 

„Es ist völlig absurd zu behaupten, dass Opposition gegen den Zionismus oder den israelischen Siedlerkolonialismus prinzipiell antisemitisch ist.”

Die unverhohlen parteiische Herangehensweise der Medien und vieler Politiker zugunsten Israels ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits bedient sie ein schrumpfendes Publikum mit Israels verzerrter Darstellung der Realität in Palästina. Andererseits ist die inhärente Doppelmoral für den größten Teil der Welt, insbesondere für jüngere Menschen, transparent. 

Anstatt ihre Informationen aus den Angeboten der Mainstream-Medien zu beziehen, die die Nachrichten weitgehend durch eine israelische Linse präsentieren, haben diese jüngeren Zielgruppen eine Vielzahl von Quellen, auf die hauptsächlich über alternative und soziale Medien zugegriffen werden kann. Mit Bildern des Todes, der Zerstörung und des Elends, das Israel den Bewohnern des Gazastreifens zufügt. Sie verstehen, dass ein hohes Maß dieser Realitäten durch die Mainstream-Medien ausgeblendet wird, für die sie zusehends Verachtung empfinden. 

Trotz einer heftigen Welle der Unterdrückung der palästinensischen Interessen und Repräsentanz im öffentlichen Raum, auf dem Campus und anderswo, hat die größere Verfügbarkeit einer breiteren Vielfalt von Informationen ihre Wirkung entfaltet: Insbesondere unter jüngeren Menschen in den USA, wo es eine große anfängliche Welle der Sympathie für Israel als Reaktion auf die Hamas-Angriffe gab. Nun überwiegt das Mitgefühl für massakrierte und ausgehungerte palästinensische Zivilisten. Infolgedessen hat sich die öffentliche Meinung in den USA erheblich verändert, und große Mehrheiten lehnen nun Israels Krieg in Gaza ab. 

Seit seiner Wahl zum Senator im Jahr 1972 ist Joseph Biden jedoch mit den vielen Mythen über Israel und Palästina liiert, die im amerikanischen Diskurs vorherrschen. Seine Regierung hat die vielen Maßnahmen ihres Vorgängers, die Israel unverhohlen begünstigten, beibehalten, einschließlich der Herabstufung der Palästinenserfrage bei gleichzeitiger Konzentration auf die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten. Biden und sein Team drängten weiterhin stark auf ein saudisch-israelisches Normalisierungsabkommen, das darauf abzielt, den einflussreichsten arabischen Staat an Israel anzunähern und die palästinensischen Aussichten, eines ihrer nationalen Ziele zu erreichen, weiter zu verringern.

Fallschirme mit Hilfsgütern schweben über dem Gazastreifen
Hilfslieferungen schweben über dem Gazastreifen. Vor allem die Vereinigten Staaten haben Israel erst mit monatelanger Verspätung aufgefordert, der Hungersnot der Bewohner des Gazastreifens beizukommen, Foto: Boris Roessler via dpa/picture alliance.

Chimäre der saudischen Normalisierung

Obwohl die Chimäre eines saudischen Normalisierungsabkommens nach dem 7. Oktober heftig mit der Realität kollidierte, schwankte die Biden-Regierung nie in ihrer Forcierung der Idee. Sie tat dies, während sie ihre arabischen Klienten mit unbegrenzter Unterstützung für Israels brutale Razzia im Gazastreifen untergrub, die dessen Regierung entschlossen als „Selbstverteidigung“ proklamiert hat. Diese Unterstützung umfasste die kategorische Ablehnung eines dauerhaften Waffenstillstands und die Notlieferung von Flugzeugladungen mit Munition und Waffen, ohne die Israels Militärkampagne nicht nachhaltig gewesen wäre. 

„Die Biden-Regierung hat die vielen Maßnahmen ihres Vorgängers, die Israel unverhohlen begünstigten, beibehalten, einschließlich der Herabstufung der Palästinenserfrage bei gleichzeitiger Konzentration auf die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und arabischen Staaten.”

Durch diese Aktionen und durch sein ständiges Echo der israelischen Rhetorik verstärkte Biden das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten den Palästinensern gegenüber zutiefst feindselig waren. Selbst als er Israel schließlich mit monatelanger Verspätung aufforderte, der Hungersnot der Bewohner des Gazastreifens beizukommen – was Israel immer noch nicht getan hat – geschah dies nicht als Reaktion auf Bilder von abgemagerten palästinensischen Babys, sondern auf den Tod ausländischer Entwicklungshelfer. 

Selbst die Forderung der Biden-Regierung nach einer „Zwei-Staaten-Lösung“ klingt hohl. Es gab keine Anzeichen dafür, dass die USA die Umsetzung der wesentlichen Voraussetzungen für eine echte Zweistaatenlösung verlangen würden: Dies sind ein schnelles und vollständiges Ende der 56-jährigen militärischen Besatzung Israels und seiner Usurpation und Kolonisierung palästinensischen Landes, die fast 750.000 illegale Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem angesiedelt hat. Die USA haben auch nicht angedeutet, dass sie akzeptieren würden, dass die Palästinenser ihre eigenen Vertreter demokratisch wählen. 

Grausamer Orwellscher Schwindel

Ohne eine entschlossene Durchsetzung dieser Maßnahmen war der Ruf nach einer „Zwei-Staaten-Lösung“ immer ein grausamer Orwellscher Schwindel. Anstelle von palästinensischer Selbstbestimmung, Eigenstaatlichkeit und Souveränität würde es den Status quo in Palästina in einer anderen Form aufrechterhalten, mit einer von außen kontrollierten Vasallen-„Palästinensischen Autonomiebehörde“ ohne Zuständigkeit oder Autorität, die durch einen Vasallen-„Palästinensischen Staat“ ersetzt wird, der ebenfalls ohne die Souveränität und Unabhängigkeit eines echten Staates ist. Es wäre eine Travestie: ein unzusammenhängender Archipel von Bantustans unter der Kontrolle Israels, mit Finanz- und Sicherheitsaufsicht durch die USA und ihre europäischen und arabischen Verbündeten. 

Wenn man auf die letzten knapp neun Monate zurückblickt – auf das grausame Abschlachten von Zivilisten, die Millionen von Obdachlosen, die von Israel verursachten Hungersnöte und Krankheiten – wird deutlich, dass dies einen neuen Abgrund markiert, im Kampf um Palästina. Während diese Phase die zugrunde liegenden Linien früherer Phasen in diesem hundertjährigen Krieg widerspiegelt, ist ihre Intensität einzigartig und hat tiefe, neue Traumata hervorgerufen. Ein Ende dieses Gemetzels ist nicht in Sicht, und es scheint keinen gangbaren Weg zu einer dauerhaften, nachhaltigen Lösung in Palästina zu geben. Eine solche Resolution kann nur auf dem Abbau festgefahrener Strukturen der Vorherrschaft und Diskriminierung sowie auf Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und gegenseitiger Anerkennung beruhen – Prozesse, die in Südafrika und Irland begonnen haben, in Palästina aber noch weit entfernt sind.

Rashid Khalidi

© Qantara.de 2024

Rashid Khalidi ist ein amerikanischer-palästinensischer Historiker des Nahen Ostens und Edward Said Professor für moderne arabische Studien an der Columbia University in New York. Khalidi nahm 1991 an der Madrider Friedenskonferenz teil. Er ist Autor einer Reihe von Büchern, darunter Der hundertjährige Krieg um Palästina (deutsch Unionsverlag 2024). und Palestinian Identity: The Construction of Modern National Consciousness (1997).