Ein Land am Abgrund

Pakistans schlecht geführter Krieg gegen den Terror hat nicht nur den Extremismus angeheizt, sondern droht nun auch noch das Land auseinander zu reißen.

Kommentar von Ahmed Rashid

​​Sieben Jahre lang hat die Bush-Regierung die afghanischen Taliban und die Führung der Al Qaida, die sich in den Stammesgebieten Pakistans formieren konnten, ignoriert, nur um jetzt alles dafür zu tun, die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Die Wahlen in den USA stehen kurz bevor und angesichts der erschreckenden Tatsache, dass Osama bin Laden nach zwei Amtszeiten von US-Präsident Bush noch immer nicht gefasst ist – ganz im Gegenteil: seine Macht sogar noch ausdehnen konnte –, ist Bush nun dabei, das Pentagon zu einer "Jagd auf Leben und Tod" auf Bin Laden anzuhalten.

Ob dieser Versuch einer "Oktober-Überraschung" vor den Wahlen Früchte trägt, bleibt abzuwarten. Fest steht allerdings, dass die Bedrohung durch die Radikalen keine einfache militärische Lösung mehr zulässt.

Es ist ein Verzweiflungsakt, dass sich am 16. September nicht nur der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Mike Mullen, in Islamabad mit dem pakistanischen Stabschef Ashfaq Kayani traf, sondern dass zur gleichen Zeit auch sein Chef, Verteidigungsminister Bob Gates, in Kabul war.

Und der gerade neu gewählte pakistanische Präsident Asif Ali Zardari weilte in London, um bei Premierminister Brown dafür zur werben, ihm die Amerikaner vom Leib zu halten und sie dazu zu bringen, sein Land zu unterstützen – anstatt wütende Gegenschläge auszuteilen.

Pakistan steht im Zentrum eines Feuerballs, der in Zentral- und Südasien eine der gefährlichsten Konfrontationen seit dem 11. September entfesseln könnte. Für diese Krise tragen Pakistan, Afghanistan, die USA und die NATO große Verantwortung.

Bush war nie geneigt, noch spürte er die Verpflichtung, Afghanistan, trotz der Bitten Hamid Karzais, wirksamen Schutz zu bieten, den terroristischen Anschlägen von jenseits der Grenze zu Pakistan zu begegnen und das Land endlich nachhaltig aufzubauen.

Altgediente Offiziere, die in Afghanistan tätig waren, sagen, dass sie das Weiße Haus und das US-Außenministerium schon im Dezember 2006 drängten, endlich tätig zu werden. Doch Bush wollte es sich nicht mit dem zurückgetretenen pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf verderben und konzentrierte sich auch auf den von den USA besetzten Irak.

Inzwischen schafft es der Präsidentschaftskandidat der Republikaner, John McCain, nicht einmal mehr, die Karte der nationalen Sicherheit gegen Barack Obama auszuspielen, weil es der Politik der Republikaner nicht gelang, Amerika gegen zukünftige Angriffe von Al Qaida zu wappnen.

Die Taliban als pakistanische Stellvertretermacht

Der pakistanische militärische Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) sah in der Vernachlässigung durch Bush quasi eine Blankovollmacht, die Taliban wieder als pakistanische Stellvertretermacht einzusetzen.

So wappnete sich die Armee gegen einen möglichen Rückzug der USA und der NATO oder gegen die Gefahr, dass Indien zu großen Einfluss in Afghanistan gewinnt. Dies tat sie, indem sie pro-pakistanische, afghanische Führer nach Kabul sandten, um dort die politischen Einflusssphären abzustecken.

Bis zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als wenn Pakistan das Spiel gewinnen könnte. Doch dann starteten die afghanischen Taliban eine nie zuvor dagewesene Offensive gegen die NATO, die USA und die afghanischen Sicherheitskräfte. Sie lähmten schließlich das Land, indem sie alle wichtigen Routen zu den städtischen Zentren abschnitten.

Dadurch versuchten sie, nicht nur die Menschen von der Versorgung abzuschneiden, sondern auch die westlichen Truppen vom Nachschub an Treibstoff und Munition, von denen 80 Prozent durch pakistanisches Gebiet transportiert werden. Auch wurden Hilfskräfte getötet, was dazu führte, dass die ohnehin nur geringe Hilfe völlig eingestellt.

Letztes Jahr entwarfen pakistanische Taliban-Milizen einen eigenen Plan, der auf eine Durchdringung des pakistanischen Nordens hinausläuft und die Errichtung eines neuen "Scharia-Staates" zum Ziel hat, der schließlich zu einer Balkanisierung des Landes führen würde.

Die pakistanischen Taliban kontrollieren inzwischen alle sieben Stammesgebiete, die zusammen die autonome Region an der Grenze zu Afghanistan bilden, die Stammesgebiete unter Bundesverwaltung ("Federal Administered Tribal Areas"). In die benachbarte Nordwestprovinz (NWFP) drängen sie mit brutalen Terrorattacken und bedrohen inzwischen auch größere Städte.

Pakistan verliert seine Souveränität

Die USA ihrerseits starten mittlerweile fast täglich Angriffe auf vermutete Al Qaida-Verstecke in der "Federal Administered Tribal Areas" und haben auch afghanische Taliban-Führer im Visier, wie Jalaluddin Haqqani. Die pakistanische Armee dementierte zunächst die Angriffe, um dann umso heftiger gegen sie zu protestieren.

Und doch setzten am 3. September amerikanische Soldaten der "Navy Seals" ihre Stiefel auf das Gebiet der FATA, um die Entschlossenheit der USA zu demonstrieren und möglicherweise auch, um Pakistan zu zwingen, die amerikanischen Militärschläge zu unterstützen und die Armee zu besserer Kooperation zu drängen.

Als Ergebnis sagt die Armee nun tatsächlich, dass sie die US-amerikanischen Angriffe erlaubt – trotz massiver öffentlicher Proteste und obwohl dadurch die Souveränität des Landes unterminiert wird.

Kämpfe mit Nawaz Sharif

Nachdem Musharraf zurückgetreten war, gewann der politisch umstrittene Asif Ali Zardari, Witwer Benazir Bhuttos und Führer der einzigen nationalen Partei des Landes, der Pakistan Peoples Party (PPP), eine überwältigende Mehrheit der Stimmen in den kleineren Provinzen der NWFP, Belutschistan und Sindh.

In Punjab, wo 65 Prozent der 160 Millionen zählenden Bevölkerung Pakistans leben, hatte er dagegen keine Chance. Dort führte sein Rivale Nawaz Sharif, der die terroristischen Attacken nicht ernst nimmt und mit den konservativen Islam-Parteien kooperiert. Die Kluft zwischen den kleineren NWFP-Provinzen und dem Punjab war nie größer.

Das Fehlen einer Strategie

Die erste Aufgabe Zardaris wird es sein, die angeschlagene Wirtschaft genauso in den Griff zu bekommen wie den Krieg gegen den Terrorismus, und dies alles, ohne die Interessen der internationalen Gemeinschaft aus den Augen zu verlieren.

Noch hat er nicht viel vorzuweisen. Seit vergangenem Februar, als die neue, von der PPP geführte Koalition die Amtsgeschäfte übernahm, ist sie in ständige Querelen mit Nawaz Sharif verstrickt. Allein mit dem Versprechen finanzieller Unterstützung und dem Drängen auf eine Reform des ISI kann die "lahme Ente" George W. Bush Zardari nicht retten.

​​Für den Kampf gegen die Terroristen braucht Zardari die Unterstützung der Armee, doch bis jetzt fehlt dem Militär hierfür eine kohärente Strategie. Sonst würde sie nicht an einem Tag Dörfer der "Federal Administered Tribal Areas" bombardieren und am Tag darauf Waffenstillstandsangebote unterbreiten und Wiedergutmachung versprechen.

Es ist der Armee nicht gelungen, die Bevölkerung der "Federal Administered Tribal Areas" zu schützen. Seit 2006 sind bereits 800.000 der nur 3,5 Millionen zählenden Bevölkerung bereits geflohen, aus Angst vor der Armee genauso wie vor den Taliban.

Die Armee hat noch immer nicht den notwendigen strategischen Kurswechsel eingeleitet, indem sie den afghanischen Taliban, die in Belutschistan leben, die Zusammenarbeit aufkündigt.

Noch versucht der ISI, die begünstigten afghanischen von den unerwünschten pakistanischen Taliban und Al Qaida zu trennen. Doch in Wahrheit operieren alle unter einer gemeinsamen Strategie und Vorgaben der Al Qaida.

Das Ziel der Al Qaida ist es, die kommenden Monate dazu zu nutzen, möglichst viel Territorium in der NWFP einzunehmen, um dort wieder sichere Basen zu errichten und Trainingscamps, die sie zuvor in Afghanistan hatte.

Eine neue Strategie für die Region

Die amerikanische Antwort besteht darin, die Truppen in Afghanistan zu verstärken — 4.500 noch dieses Jahr, weitere 10.000 im nächsten — und weiterhin Druck auf Pakistan auszuüben. Doch schon lange hängt die Antwort nicht mehr nur an einem Land.

Die Taliban sind ein Problem der gesamten Region. Und die nächste US-Regierung muss eine Strategie entwickeln, die den Iran, Pakistan, Indien, Afghanistan und die fünf zentralasiatischen Republiken berücksichtigt.

Die westlichen Streitkräfte können in Afghanistan nicht gewinnen, wenn sie sich nicht mit Pakistan arrangieren. Doch wird sich das pakistanische Militär nur zu einer Umkehr bewegen lassen, wenn es sich sicherer gegenüber Indien fühlt, das über gute Beziehungen zu Präsident Karzai und zu den Tadschiken im Norden Afghanistans verfügt.

Mit dem Iran, das Milizen in Afghanistan mit Waffen versorgt, müssen die Amerikaner in direkte Verhandlungen treten. Auch müssen sie wieder beim UN-Sicherheitsrat vorstellig werden und sich ein neues Mandat für eine diplomatische Initiative für die gesamte Region verschaffen.

Ein massives Hilfsprogramm für die Region muss auf den Weg gebracht werden und auch eine groß angelegte Informationskampagne muss die Menschen in diesen Staaten davon überzeugen, dass die westliche Koalition Probleme löst, sie also nicht länger als Kriegstreiber erscheint, als die sie zur Zeit häufig wahrgenommen wird.

Vor allem aber geht es darum, ob der nächste US-Präsident, die Europäer und die NATO den Mut und den aufrichtigen Willen haben, "den Stier bei den Hörnern zu packen" und etwas Neues zu versuchen, anstatt weiterhin auf eine Strategie zu vertrauen, die ganz augenscheinlich gescheitert ist.

Ahmed Rashid

© Yale Global 2008

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Ahmed Rashid ist pakistanischer Journalist und Autor des Buches "Descent into Chaos: The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia". Er arbeitet als Korrespondent für den "Daily Telegraph".

Qantara.de

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