Erdogans Türkei im Spiegel der Demoskopie
Im Jahr 2023 sollen – so Erdogans Plan – die Türkinnen und Türken nicht nur mit großem Pomp den hundertsten Geburtstag der Republik feiern, sondern ihm in einer Atmosphäre der nationalen Euphorie zugleich das Mandat für eine weitere Amtsperiode geben.
Seit 18 Jahren ist Erdogan ununterbrochen an der Macht, zunächst als Ministerpräsident, später dann – mit zusätzlicher Machtfülle ausgestattet – als Präsident. Derzeit läuft es politisch nicht gut für den vom Erfolg verwöhnten Politiker. Hohe Inflation und taumelnde Lira-Kurse, dazu ein wachsendes Heer von Arbeitslosen haben den Nimbus des erfolgreichen Staatslenkers zerstört.
Jetzt erschüttert ein politisches Erdbeben das Land am Bosporus. Im Mittelpunkt der Polit-Affäre, die das Zeug hätte, sich zu einer Staatskrise auszuweiten, steht ein flüchtiger Mafiaboss. Dieser veröffentlicht aus seinem Exil in Dubai über YouTube brisante Beschuldigungen gegen die Regierungspartei, wobei Innenminister Süleyman Soylu bislang die Hauptzielscheibe ist. Es geht unter anderem um Drogenschmuggel, Korruption und unaufgeklärte Morde. Auch wenn Sedat Peker, so der Name des Ex-Gangsters, der in der Türkei quasi über Nacht zu einer Art Medienstar avancierte, Beweise für seine teilweise ungeheuerlichen Vorwürfe schuldig geblieben ist, beflügelt der Vorgang die verbreitete These vom Verfall von Recht und Ordnung und der geheimen Kooperation der Regierenden mit der Unterwelt.
Die vielen schlechten Nachrichten, dazu ein alles andere als überzeugendes Management in der Corona-Krise, wirken sich negativ auf den Rückhalt für die Regierung in der Bevölkerung aus. Wenn Erdogan von vorgezogenen Neuwahlen nichts wissen will, liegt das vor allem auch daran, dass sich die Demoskopen weitgehend einig sind, dass er und die Seinen diese nicht gewinnen würden.
Beliebtester Staatsmann in der arabischen Welt
Im Stimmungstief gibt es einen Lichtblick: Demoskopischer Trost für den in Umfragen gebeutelten Präsidenten kommt aus einem Teil der Welt, der Erdogan besonders am Herzen liegt: Die aktuelle Erhebung des "Arab Barometer“ weist den türkischen Präsidenten als den beliebtesten "regionalen Führer“ aus. In Marokko, Jordanien, Algerien und Tunesien liegt der Türke deutlich vor dem iranischen Revolutionsführer Ali Khameini und Kronprinz Mohamad Bin Salman aus Saudi-Arabien. Weniger günstig – so Arab Barometer – fallen die Ergebnisse für Erdogan lediglich in Libyen und dem Libanon aus.
Abdul-Wahab Kayyali, der die Umfrage wissenschaftlich betreut hat, führt die guten Werte für Erdogan auf dessen im Vergleich mit den Konkurrenten starke demokratische Legitimität zurück: "Erdogan genießt eine beachtliche Legitimität durch Wahlen. Erdogan hat wiederholt Wahlen gewonnen, die im Großen und Ganzen fair waren. Weder Bin Salman noch Khamenei genießen diese Legitimität“. Die aktuelle Untersuchung des Arab Barometer befasst sich vor allem mit der Außenpolitik.
Während die Außenpolitik der Türkei unter Präsident Erdogan wegen ihres aggressiven Charakters im Westen – und hier vor allem in Europa – im Kreuzfeuer der Kritik steht und ein wesentlicher Grund für die Zerrüttung des Verhältnisses mit der EU ist, kommt Ankaras harter Kurs in der arabischen Welt nach Angaben der Erhebung wesentlich besser an: "Die öffentliche Meinung in der arabischen Welt scheint Erdogans wachsende Neigung zu harter Politik und die Herausforderung Israels und der USA zu bewundern,” schreibt David Garner in der Financial Times.
Dass Erdogan in diesem Feld höheren Zuspruch findet als seine regionalen Mitbewerber aus Iran und Saudi-Arabien, erklärt Abdul-Wahab Kayyali mit einer morbiden Relativierung der jeweiligen Militärpolitik: "Obschon alle drei Anführer eine Außenpolitik betreiben, die eindeutig als imperial zu bezeichnen ist, verblasst die ethnische Säuberung der Türkei in Teilen Nordsyriens im Vergleich zum genozidalen Krieg Saudi-Arabiens im Jemen und Irans Intervention in Syrien, die ebenfalls Züge eines Genozids trägt.“
Erdogans Außenpolitik überzeugt nicht mehr
In den Kommentarspalten der Zeitungen – deutsche Medien bilden hier keine Ausnahme – wird die "neo-osmanische Außenpolitik“ Erdogans häufig als Funktion der Innenpolitik bezeichnet, nach dem Motto: Erdogan zündelt im Ausland, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Oder anders formuliert: Erdogan führt jenseits der Grenzen Krieg, um die Nation zu mobilisieren und hinter sich und seiner Partei zu vereinen.
Hier ist nicht der Platz, um den Zusammenhängen zwischen türkischer Innenpolitik und Außenpolitik im Einzelnen auf den Grund zu gehen. Interessant sind in diesem Zusammenhang aber aktuelle demoskopische Befunde, die besagen, dass Erdogan mit seiner Außenpolitik große Teile der türkischen Bevölkerung derzeit nicht überzeugen kann. Auf die Frage "Wie beurteilen Sie die außenpolitischen Leistungen der Regierung?“ gaben im Mai 2021 über die Hälfte der Befragten eine negative Bewertung ab: 25,2 Prozent sagten, die Außenpolitik sei "sehr erfolglos“, 29,5 Prozent stimmten für die Bewertung "erfolglos“.
Bei näherem Hinsehen fallen nicht zuletzt die hohen Negativangaben unter den Anhängern der MHP, des rechtsextremen Koalitionspartners in der Erdogan-Regierung, auf: Vier von zehn Anhänger der Partei halten Ankaras Außenpolitik derzeit für "erfolglos“ oder "sehr erfolglos“. Die Kritik reicht also weit ins eigene Lager hinein. "Die Außenpolitik ist nicht länger ein Politikfeld, auf dem die AKP ihre Wählerbasis erweitern kann“, kommentiert Can Selcuki, Chef des Umfrageinstituts Türkiye Raporu, den demoskopischen Befund.In der aktuellen Phase der türkischen Innenpolitik spielt die MHP eine Schlüsselrolle. Bereits 2018 war Erdogan auf die Stimmen der rechtsextremen Partei angewiesen. Die Abhängigkeit des Präsidenten von MHP-Primus Devlet Bahceli hat zuletzt noch zugenommen. Denn: Die AKP ist – so die Demoskopen – weit davon entfernt, bei den nächsten Wahlen allein eine absolute Mehrheit zu gewinnen. Das gilt für die Abstimmung über die Sitze im Parlament, politisch wesentlich wichtiger sind aber die Präsidentschaftswahlen. Auch hier ist Erdogan auf die „Leihstimmen“ anderer Parteien angewiesen. Das hat zur Folge, dass einmal mehr das Augenmerk auf den kleineren Parteien liegt. Ihnen wird die Rolle von Königsmachern zugeschrieben.
Antworten auf die "Sonntagsfrage“
Wenn am kommenden Sonntag gewählt würde, kämen nach aktuellen Umfragen die AKP auf 26,3 Prozent, die CHP auf 18,2 Prozent, die IYI Partei auf 12,5, die HDP auf 9,6 und die MHP auf 6, 0 Prozent.
Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, haben sich die Parteien in "Allianzen“ zusammengeschlossen; der "Volksallianz“ (Cumhur Ittifaki) gehören die AKP und die MHP an, zur "Nationalen Allianz“ (Millet Ittifaki) zählen die CHP und die IYI Partei. In den Umfragen liegen die Blöcke Kopf an Kopf. Das mäßige Ergebnis für den Oppositionsblock liegt vor allem an der Schwäche der sozialdemokratischen CHP, die mit derzeit 18 Prozent fünf Prozentpunkte unter ihrem Wahlergebnis von 2018 liegt. Wie die Allianzen am Wahltag aussehen werden, gehört zu den besonders heiß diskutierten Themen der türkischen Innenpolitik.
Allgemein wird damit gerechnet, dass zwei neue Parteien, die sich von der AKP abgespalten haben (DEVA Partisi und Gelecek Partisi) unter dem Dach der Oppositionsfront gegen Erdogan ins Feld ziehen werden.
Am Ende zählen in der türkischen Politik die Einzelergebnisse der Parteien weniger als die Resultate bei den strategisch angelegten Wahlallianzen. Sehr deutlich wurde dies beim Ausgang der Kommunalwahlen von 2019. Damals errangen Kandidaten der Opposition in einem als sensationell bezeichneten Wahlausgang Siege gegen die Kandidaten der Regierung. Die Triumphe der Opposition nicht zuletzt in den Metropolen Istanbul und Ankara zerstörten die Aura der Unbesiegbarkeit der AKP und wirken politisch bis heute nach.
Dass die Opposition die Nase vorn hatte, lag in hohem Maße an der Haltung der pro-kurdischen HDP. In den Umfragen liegt diese Partei derzeit stabil bei rund zehn Prozent. Auch bei den kommenden Wahlen wird die Haltung der HDP eine entscheidende Rolle spielen. Diese heimliche Macht der pro-kurdischen Formation ist der AKP, vor allem der MHP ein Dorn im Auge. Mit allen Mitteln will die Regierung die Partei neutralisieren. Derzeit läuft ein Verbotsantrag gegen die zweitgrößte Oppositionspartei.
Auch in der Türkei spielt das politische Spitzenpersonal eine wahlentscheidende Rolle. In den "Sonntagsfragen“ geht es daher auch um die Popularität der Top-Kandidaten (und derzeit der einen Kandidatin). Auch in dieser Hinsicht sieht es im Moment nicht rosig für den Amtsinhaber aus.
Wie in Frankreich gilt in der Türkei bei den Präsidentschaftswahlen ein System, wonach der Sieger oder die Siegerin eine absolute Mehrheit der Stimmen erreichen muss. Gelingt dies nicht im ersten Durchgang, treten die zwei Best-Plazierten in einer Stichwahl gegeneinander an. Aktuell liegt das Augenmerk der Beobachter weniger auf der Frage, ob Erdogan – wie 2018 – gleich im ersten Anlauf siegen kann. Dieses Szenario schließen die Demoskopen derzeit aus. In Umfragen sagt eine wachsende Zahl von Wählern, "niemals“ für Erdogan stimmen zu wollen. Zuletzt haben etwa 50 Prozent der Befragten dies angegeben – Tendenz steigend.
Zum Bild der schrumpfenden Popularität der Regierungspartei passt, dass 17 Prozent der Wähler, die in 2018 für die AKP stimmten, bei der kommenden Abstimmung "definitiv“ nicht mehr ihr Kreuz bei der Regierungspartei machen wollen. Dieser Anteil lag – so heißt es bei Turkiye Raporu – im Februar 2021 erst bei acht Prozent, was die Dynamik der Absetzbewegung von der AKP zeige.
Sollten die Demoskopen recht behalten – und die aktuellen Trends sich verfestigen – wäre bei den Präsidentschaftswahlen eine Stichwahl zwischen Erdogan und einem Kandidaten der Opposition das wahrscheinliche Szenario. Schlecht für den Amtsinhaber: Im direkten Vergleich - Stand Mai 2021 – liegen sowohl der Bürgermeister von Ankara Mansur Yavas (mit 53 Prozent) wie sein Istanbuler Amtskollege Ekrem Imamoglu (mit 51 Prozent) in der Wählergunst vorne.
Es empfiehlt sich, das aktuelle Stimmungsbild, das in den politischen Debatten der Türkei eine wichtige Rolle spielt, als das zu nehmen, was es ist: Politische Meinungsumfragen sind immer nur eine Momentaufnahme. Zahlreich, ja geradezu legendär sind die Verfehlungen der Demoskopen, das Wahlverhalten genau vorherzusagen. Insofern sind die vielen Umfragen, die Erdogan als Verlierer sehen, mit Vorsicht zu genießen. Der türkische Präsident hat verschiedentlich seine Nehmerqualitäten bewiesen. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass politische Beobachter den Vertrauensschwund in dieser Phase der türkischen Politik für wesentlich ausgeprägter, teilweise gar für unumkehrbar halten. Entfremdung vom Westen
Während die Demoskopie in Bezug auf die Wahlabsichten und die Beliebtheitswerte des politischen Spitzenpersonals eine hohe Volatilität ausweist, bei günstigeren Rahmenbedingungen im Zuge der Überwindung der Corona-Pandemie eine Trendwende somit nicht ausgeschlossen ist, sind die Meinungsbilder in Bezug auf die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen stabiler. Zu diesem Themenfeld liegen zahlreiche Erhebungen vor. Die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union (EU) bilden dabei einen Schwerpunkt der Meinungsforscher.
Unterschiedliche Untersuchungen kommen in einer wesentlichen Frage zu einem ähnlichen Ergebnis: Rund zwei Drittel der Türkinnen und Türken unterstützen die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU. Doch lediglich 40 Prozent halten diese Perspektive für realistisch. Die Zahlen verdeutlichen die Frustration vieler Menschen in der Türkei über das eingefrorene Beitrittsthema.
Die wohl wichtigste Quelle für die systematische Analyse der öffentlichen Meinung zu Fragen der internationalen Politik ist die jährliche Studie der Istanbuler Kadir Has Universität. Unter dem Titel "Turkey Trends“ präsentiert Mustafa Aydin auf weit über hundert Seiten und mit vielen Tabellen aktuelle Stimmungsbilder zu mehr oder minder allen Aspekten der türkischen Außenbeziehungen. Die vorangeschrittene Entfremdung der Menschen in der Türkei vom Westen kann als der rote Faden bezeichnet werden, der sich durch das Tabellenwerk zieht.
Besonders aufschlussreich ist die mit "Bedrohung für die Türkei“ überschriebene Tabelle. Diese Liste führen in den zurückliegenden Jahren konkurrenzlos die Vereinigten Staaten von Amerika an. Demnach betrachten über 60 Prozent der Türken die westliche Führungsmacht als eine Bedrohung. Auf den Plätzen folgen – mit kleinem Abstand – Israel, Armenien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Nach der Studie hält einer von zwei Menschen in der Türkei – knapp über 50 Prozent - Deutschland für eine Bedrohung.
Ein Spiegelbild der Länder, die als bedrohlich gesehen werden, bildet die Liste der Verbündeten. Unangefochten an der Spitze liegt hier das benachbarte Aserbaidschan. Das erste westliche Land in der Hitliste der Freunde ist Deutschland auf Rang 11. Doch aus deutscher Sicht besteht wenig Grund zur Euphorie: Lediglich 15 Prozent der Befragten betrachten das Land im Herzen Europas als einen Verbündeten.
Wie tief das Misstrauen gegenüber dem Westen in der türkischen Gesellschaft verwurzelt ist, zeigt eine aktuelle, vom German Marshall Fund geförderte Umfrage. Demnach sind 79 Prozent der Befragten der Ansicht, es sei das Ziel der europäischen Partner, die Türkei zu teilen und zu spalten. Knapp zwei von drei Türken sind zudem der Meinung, dass die von der EU im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen eingeforderten Reformen einer Kapitulation gleichkommen.
Politisch ist die Türkei ein in hohem Maße polarisiertes Land mit zwei in grundsätzlichen Fragen über Kreuz liegenden Lagern. Auffällig ist, dass die öffentliche Meinung in wichtigen Fragen der Außenbeziehungen nicht in dieses Muster der Zweiteilung passt, es also in außenpolitischen Fragen weitaus größere Einstimmigkeit gibt als dies bei innenpolitischen Fragen der Fall ist.
Diese Beobachtung untermauert die These, dass selbst im Falle eines Regierungswechsels in Ankara bzw. einem Ausscheiden Erdogans aus der Politik die Grundzüge der türkischen Außenpolitik sich nicht ändern würden. Oder anders ausgedrückt: Die Entfremdung von Europa und dem Westen ist kein vorübergehendes Phänomen, sie hat längst tiefe Wurzeln in großen Teilen der türkischen Gesellschaft geschlagen.
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