Corona und Erdoğans Medienschelte
Unter türkischen Journalisten grassiert die Angst. Angesichts des jüngsten Wutanfalls von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kommen bei ihnen Erinnerungen an den Putschversuch vom 15. Juli 2016 auf. Dieser nutzte damals nach dem missglückten Umsturz die Gelegenheit, um Kritiker und Oppositionelle mit einer beispiellosen Verhaftungswelle mundtot zu machen. Nun fürchten viele Journalisten erneut eine beispiellose Verhaftungswelle von Kritikern und Oppositionellen.
"Unser Land muss nicht nur vom Coronavirus, sondern auch von allen medialen und politischen Viren gerettet werden", hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nach türkischen Medienberichten am Ostermontag nach einer Kabinettssitzung erklärt. "Anstatt beim Kampf gegen die Pandemie einen Teil beizutragen, kotzen sie falsche Informationen und Unwahrheiten aus – somit sind sie gefährlicher als der Virus selbst."
Gemeint sind mit den "medialen und politischen Viren" Kritiker aus den Oppositionsparteien oder Journalisten, die sich in den wenigen noch existierenden unabhängigen Medien oder auf der Plattform Twitter kritisch äußern. Die oppositionellen Medien würden "einen Krieg gegen das eigene Land führen"; sie arbeiteten "Tag und Nacht daran, die Moral der Nation zu brechen", so Erdoğan. Er kündigte Konsequenzen an: "Zusammen mit den Terrororganisationen werden sie in ihren eigenen Gruben des Hasses und Intrigen ersaufen."
Die Angst grassiert
Der ehemalige Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP und Journalist Barış Yarkadaş deutet den Wutanfall des Präsidenten als einen Hinweis auf eine neue mögliche Operation gegen Pressevertreter. Es störe Erdoğan, dass das von der Regierung vermittelte positive Bild der Epidemie-Bekämpfung von unabhängigen Journalisten gestört würde. "Daher sehen sie Journalisten, die dem Publikum Fakten präsentieren, als 'Viren', die sie zerstören müssen."
Die bereits 18 Jahre andauernden Festnahmen (Anm. d. Red: Die islamisch-konservative Partei AKP gewann 2002 die Parlamentswahlen und stellt seitdem die Regierung) werden "so lange weiter betrieben, bis kein einziger kritischer Journalist mehr übrig geblieben ist", prognostiziert der Türkei-Vertreter von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoğlu. Es seien nur noch ein paar Fernsehsender und Zeitungen übrig. Diese hätten zwar nur ein kleines Budget, würden aber dennoch den eintönigen Chor des Präsidenten empfindlich stören.
Ausgangssperre für 48 Stunden
Nach Angaben des türkischen Gesundheitsministeriums sind mittlerweile rund 86.000 Menschen in der Türkei mit dem Virus infiziert (Stand: 20.04.2020). Seit Wochen wird darüber diskutiert, ob die bisherigen Maßnahmen gegen die Pandemie ausreichen. So erklärte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, der zur politischen Opposition gehört, dass die 48-stündige Ausgangssperre vom vergangenen Wochenende wirkungslos gewesen sei.
Die türkische Regierung reagiert seit Beginn der Coronakrise gereizt auf kritische Berichterstattung. Besonders die Strafanzeige vom 7. April gegen den beliebten Moderator des Fernsehsenders FOX, Fatih Portakal, erregte Aufsehen in der türkischen Öffentlichkeit. Er kritisierte eine Corona-Spenden-Kampagne der türkischen Regierung auf Twitter; Hauptankläger ist der türkische Präsident höchstpersönlich.
Der Fall Portakal ist kein Einzelfall – die Reihe der Journalisten, die in den vergangenen Wochen ins Fadenkreuz der Justiz gerieten, weil sie ihre Stimme gegen die Corona-Politik erhoben haben, wird immer länger: Die willkürlichen Vernehmungen der Journalisten Idris Özyol und Ebru Küçükaydın, denen vorgeworfen wurde, durch kritische Berichterstattung Panik in der Mittelmeermetropole Antalya gestiftet zu haben.
Die Unterlassungsklage an Mustafa Özdemir, den Chefredakteur der Lokalzeitung Halkın Sesi, der zugeben sollte, dass sein Blatt in der Schwarzmeerstadt Zonguldak Panik verursacht und somit den Tod von Menschen in Kauf genommen habe. Oder die plötzliche Inhaftierung des Chefredakteurs der Lokalzeitung SES Kocaeli İsmet Çiğit, der aufgrund von kritischer Berichterstattung nachts von der Polizei aufgesucht und anschließend inhaftiert wurde.
Auch kritische Twitter-Nachrichten führten zu staatlichen Ermittlungen. So wurde gegen die Journalistin Nurcan Baysal aus der südosttürkischen Stadt Diyarbakır wegen eines Tweets ermittelt, in dem sie unter anderem die Versorgungsengpässe bei Atemmasken kritisiert hatte. "Journalisten werden sich bei diesem Klima zwangsläufig selbst zensieren, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen", sagte Baysal. "Der Staat ist bei der Beförderung dieser Ängste bereits sehr erfolgreich."
Keine Freiheit für politische Häftlinge
Das vergiftete Verhältnis zwischen türkischer Presse und der Regierung zeigt sich auch in der jüngst erfolgten vorzeitigen Entlassung von 90.000 Gefangenen, die der Ansteckungsgefahr in Gefängnissen vorbeugen sollte. Die Amnestie zum Schutz vor Corona gilt nicht für Journalisten und politische Gefangene.
Die Opposition kündigte an, gegen den Erlass vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Für den Türkei-Vertreter von Reporter ohne Grenzen, Erol Önderoğlu, steht fest: "Für Erdoğan sind oppositionelle Medien noch schlimmer als ein Virus. Die Reform zeigt, dass die Regierung Medienvertreter eher mit der Pest gleichsetzen."
Daniel Derya Bellut
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