Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit
Sie haben in zahlreichen Büchern beschrieben, welche radikalen Veränderungen die ägyptische Gesellschaft nach dem Umsturz von 1952 durchgemacht hat. Ist die gegenwärtige Revolution ebenso bedeutend wie der einstige Putsch der freien Offiziere von 1952?
Galal Amin: Beide Revolutionen markieren einen Bruch mit der Vergangenheit. Auch wenn die Revolution 2011 noch sehr jung ist, kann man leicht voraussagen, dass sie mit der Vergangenheit radikal bricht. 1952 wollten wir Schluss machen mit dem Regime des Königs und eine neue, gerechtere Gesellschaft bilden. Genau wie jetzt im Januar 2011.
Waren Sie damals 1952 an der Revolution beteiligt?
Amin: Ich war nicht direkt beteiligt, da ich erst 17 Jahre alt war. Aber ich war seit meinem 12. Lebensjahr politisch interessiert und verfolgte alles sehr genau. Beide Revolutionen kamen unerwartet, obwohl die Atmosphäre unmittelbar davor sehr gespannt war – 1952 noch mehr als dieses Jahr. Revolutionen geschehen in Ägypten immer recht unerwartet.
Warum?
Amin: Weil die Ägypter grundsätzlich kein revolutionäres Temperament besitzen. In diesem Punkt sind sie wie die Briten. Wenn zwei Ägypter zusammen streiten und richtig böse werden, kommt bald ein dritter hinzu und beschwichtigt sie mit den Worten: "Der Prophet sei gepriesen." Nach diesen Worten beruhigen sich die Streitenden. So funktionieren wir Ägypter. Das heißt aber nicht, dass wir nie eine Revolution machen würden, aber wenn, dann erfolgt sie überraschend.
Was unterscheidet die aktuelle Revolution vom Umsturz des Jahres 1952?
Amin: 2011 war die gesamte Bevölkerung an der Revolution beteiligt. Quer durch alle sozialen Schichten, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Männer und Frauen, Junge und Alte, Christen und Muslime protestierten Seite an Seite gegen das System. Das gefällt mir sehr. Dagegen begann die Revolution von 1952 als Militär-Coup und kam eben nicht aus der Bevölkerung. Der Sturz der Monarchie war jedoch sehr populär und wurde von vielen Menschen begrüßt und unterstützt. Aber es war ein geheim geplanter Coup. Heute ist es gerade umgekehrt: Die Bevölkerung macht die Revolution, und die Armee unterstützt sie.
Was bedeutet das?
Amin: In der Wirtschaft unterscheiden wir zwischen Besitzern und Managern eines Unternehmens. Meistens sind die Besitzer nicht zugleich die Manager. Die Besitzer sind die Shareholder (Aktionäre). Die Manager haben unter Umständen überhaupt keine Aktien an dem Unternehmen. Auf die Revolution übertragen, bedeutet das, dass die Bevölkerung die Besitzer oder Aktionäre sind, die Armee dagegen ist der Manager der Revolution. Das ist ein Dilemma. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der weitreichende Konsequenzen hat.
Nämlich?
Amin: Die Armee bestimmt jetzt, was geschieht. Der Premierminister Ahmed Shafik, der seinen Eid noch unter Mubarak abgelegt hatte, wurde zwei Wochen später zum Rücktritt gezwungen. Die jungen Leute aus der Protestbewegung verlangten von der Armeeführung die Absetzung Shafiks. Aber es sind bis heute weitere Minister in diesem Kabinett, die den Eid noch unter dem Ex-Präsidenten geleistet haben.
Die Protestbewegung hat doch gerade beim Rücktritt von Shafik eine entscheidende Rolle gespielt?
Amin: Ich und viele andere meinen, dieser Einfluss geht nicht weit genug. Der Armeechef Tantawi war rund 20 Jahre lang Minister unter Mubarak! Das ist nicht akzeptabel! Die jungen Menschen spüren dies, und die weniger jungen Leute spüren es noch viel mehr. Aber niemand spricht diese Zweifel aus. Was man hört, ist Dankbarkeit dafür, wie sich die Armee während und nach der Revolution verhalten hat. Und man will jetzt nicht noch mehr Probleme schaffen, indem man die Armee angreift.
Die Situation war 1952 anders. Die Armee übernahm die Macht und änderte das ganze System. Sie gründete den Rat der revolutionären Führung und begann das Land zu regieren. Sie haben die Revolution gemacht und bestimmten auch danach über die Zukunft des Landes. Heute stellt sich das anders dar.
Die Revolution von 1952 war von der Ideologie des Nationalismus geprägt. 2011 sind keine ideologischen Slogans zu hören. Was hat sich verändert?
Amin: Heute werden elementare Forderungen gestellt: Brot, Würde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit. Über 30 Jahre lang wurde uns die Freiheit verwehrt, offen unsere Meinung zu sagen. Und jetzt darf plötzlich jeder sagen, was er will. Ahmed Fuad Negm, ein bekannter Poet, den ich sehr liebe, rezitierte kürzlich im Fernsehen ein altes Gedicht: "Uns war alles verboten, das Sprechen ebenso wie das Schweigen." Denn manchmal hätte man auch lieber schweigen wollen, aber man durfte nicht, sondern musste noch 'Ja' sagen in einem Referendum zur Bestätigung des Präsidenten. Die Forderungen der Jugend sind also sehr bescheiden.
Ist es noch zu früh für politische Programme und inhaltliche Debatten?
Amin: Wenn man den politischen Diskurs der Intellektuellen der letzten 30 Jahre ansieht, bemerkt man, dass die Ideologien praktisch verschwunden sind. Die Opposition schimpfte nur noch über die Regierung, bot aber keine Alternativen, kein Programm. Das ist ein Resultat der totalen Einschränkung von Meinungsfreiheit. Denn wenn man im Gefängnis sitzt, schmiedet man keine Pläne für die Zukunft. Dann schreit man nur noch, dass man aus dem Gefängnis raus will.
Da wird es irrelevant, ob man sozialistische oder kapitalistische Ideen vertritt. Die Freude der Bevölkerung, die während der Revolution zum Ausdruck kam, ist die Freude von jemandem, der gerade aus dem Gefängnis befreit wurde. Das erklärt auch, warum diese Freude alle sozialen Schichten erfasst hat. Aber jetzt ist die Zeit reif für politische Debatten.
Was kann Ägypten aus seiner Geschichte lernen?
Amin: Ich halte einen bestimmten Zeitraum der Regierungszeit Nassers, nämlich von 1956 bis 1966, insofern für gelungen, da es uns in Ägypten sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit recht gut ging. Außerdem befreiten wir uns damals vom internationalen Druck. Der Sechstagekrieg mit Israel hat dann alles verändert. Seither ist alles schief gegangen. Alles was seither geschah, ist eine direkte oder indirekte Konsequenz aus diesem Krieg. Für mich ist es nicht erst in den letzten 30 Jahren unter Mubarak mit Ägypten bergab gegangen, sondern bereits in den 43 Jahren seit 1967. Aber ich bin nicht so naiv zu sagen, wir müssen alles wieder so machen wie Nasser. Die Welt hat sich seitdem doch sehr verändert.
Inwiefern?
Amin: Wir sollten unsere Zukunft planen. Das wurde in den letzten Jahren vernachlässigt. Wir müssen den privaten Sektor jetzt stärken. Wir müssen Investitionen willkommen heißen. Während Nassers Regierungszeit von 1953 bis 1970 war Ägypten wirtschaftlich fast völlig isoliert von der übrigen Welt. Es gab hohe Zölle, Reisen war sehr schwierig. In dieser Zeit kursierte ein Witz, der sehr bezeichnend für die damalige Zeit war: "Eines Tages besuchte Nasser die Sphinx und erklärte ihr, wie stolz er auf sie sei und ihr gerne einen Wunsch erfüllen würde. Da entgegnete ihm die Sphinx, sie hätte gern ein Ausreise-Visum!" Also, die Frage, wie mein ein Ausreise-Visum bekommt, beschäftigte damals die Leute.
Der amerikanische Politikwissenschafter Michael Mandelbaum zweifelt daran, dass Demokratie in Ägypten realisierbar sei. Er argumentiert, dass Demokratie nicht nur freie Wahlen bedeute, sondern auch politische, ökonomische und religiöse Freiheit. Was meinen Sie dazu?
Amin: Er hat recht in der Aussage, dass Demokratie mehr ist als bloß freie Wahlen. Aber wir können Vieles von dem erreichen, was er erwähnt: die freie Meinungsäußerung ist bis zu einem bestimmten Grad bereits möglich und dies wird sich auch noch weiter verbessern. Die religiöse Freiheit betrifft das Verhältnis zwischen Muslimen und koptischen Christen in Ägypten. Dieses kann sich unter einer patriotisch gesonnenen Regierung verbessern. Die Konflikte zwischen Muslimen und Christen der vergangenen Jahre wurden erwiesenermaßen häufig vom Regime geschürt, das auf diese Weise seinen eigenen Repressionsapparat legitimieren wollte. Ich glaube tatsächlich, dass wir dieses Problem letztendlich lösen können.
Interview: Susanne Schanda
© Qantara.de 2011
Galal Amin wurde 1936 in Kairo geboren. Nach längeren Aufenthalten in Kuwait und im Libanon war er bis 2011 Professor für Wirtschaft an der "American University of Cairo". Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen wie "Whatever happened to the Egyptians?" (1998) und "The Illusion of Progress in the Arab World" (2006).
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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