"Pakistans Instabilität ist ein globaler Risikofaktor"
Sie betreiben selbst eine Farm im Südpunjab, einer der Gegenden, die am schwersten von der Flut betroffen ist. Was sind Ihre Eindrücke?
Daniyal Mueenuddin: Der Westen hat noch immer nicht die Art und das Ausmaß der Katastrophe begriffen. Was geschehen ist, gleicht einer Neutronenbombe, mit umgekehrter Wirkung. Es sind nicht ganz so viele Menschen ums Leben gekommen, aber es ist sehr viel Besitz vernichtet worden. Deshalb handelt es sich hier um eine Katastrophe in Zeitlupe. Diejenigen, die der Flut entkamen – die meisten sind Bauern – haben ihre Tiere und ihre Lebensmittelvorräte verloren.
Diese Menschen verbrauchen jetzt den Rest ihrer ohnehin schon mageren Vorräte, dann werden sie hungern. Sie haben keine Möglichkeit mehr, selbstständig für ihren Unterhalt zu sorgen. Denn selbst wenn diese Menschen auf ihr Land zurückkehren und das Wasser versickert ist, wird es lange dauern, den Boden wieder nutzbar zu machen. All das wird Pakistans Weg in Chaos, so fürchte ich, beschleunigen. Daher sollte der Westen erkennen, dass es auch in seinem Interesse ist, zu helfen und zu spenden. Doch das ist leider nicht der Fall.
Weil viele im Westen fürchten, dass ihre Spenden in die falschen Hände geraten...
Mueenuddin: Das ist leider der Preis, den man zahlt, wenn man Geschäfte mit Pakistan macht. Aber das kann keine Rechtfertigung sein zu sagen: Zur Hölle mit euch! Das kann sich der Westen nicht leisten. Pakistans Instabilität ist ein globaler Risikofaktor. Wenn unser Land unter Verletzungen leidet, blutet später die ganze Welt. Deswegen stellt sich allein die Frage, wann man dieses Problem löst: Der Westen kann entweder sofort einschreiten – oder später, wenn sich die Situation verschlimmert hat, um dann wird man noch mehr wertvolle Ressourcen und Blut vergeuden müssen. Der Westen kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen, so sehr er sich das auch wünschen mag.
Acht Geschichten aus Ihrem Erzählband "Andere Räume, andere Träume" spielen im Punjab. In deren Mittelpunkt steht ein Clan von Großgrundbesitzern. In Pakistan nennt man solche Familien Feudalherren. Was sollte der Leser im Westen über Feudalismus in Pakistan wissen, um diese Geschichten besser verstehen zu können?
Mueenuddin: Ich hoffe, dass man überhaupt keine Vorkenntnis von irgendetwas haben muss, um diese Geschichten verstehen zu können. Aber Sie haben Recht: Es gibt das so genannte Feudalsystem in Pakistan – das längst nicht so alt ist wie etwa in Europa. In Pakistan waren es in erster Linie die Briten, die Mitte des 18. Jahrhunderts den Punjab eroberten und namhaften Männern und Familien Land und Macht übertrugen – um mit ihnen das Land zu beherrschen. Diese so genannten Feudalherren sind nun, drei Generationen später, schon wieder im Verschwinden begriffen – verdrängt von einer neuen, sehr cleveren und noch machthungrigeren Generation. Und genau diesen Umbruch beschreiben meine Geschichten.
Diese Geschichten spielen zwischen den späten 1970er Jahren und der Zeit kurz nach 9/11. Wie hat sich der Feudalismus in dieser Zeit verändert?
Mueenuddin: Der größte Wandel ist sicher der Werteverlust dieser Klasse. Die alte Klasse der Feudalherren unter dem British Raj, also der Kolonialregierung, war nicht einfach nur nicht korrupt. Sie wäre aufgrund ihres strikten moralischen Codes schlichtweg nie auch nur auf den Gedanken gekommen, dass Korruption eine Option sein könnte. Genau das gibt es nicht mehr. Dieser Werteverlust hat aber zugleich das ganze Land untergraben. Denn Korruption ist nicht allein eine Frage von Geld. Sie sickert in alle Bereiche einer Gesellschaft und überträgt sich auf alle und alles. Die wenigen Feudalherren, die es noch gibt, haben daher ebenso wenig mit ihren Vorgängern gemeinsam wie das heutige Pakistan der "Bomben" und "Bärte" mit dem ländlichen Pakistan der 50er Jahre.
Die Erzählungen schildern das Leben von Harouni und seiner Familie. Aber dies geschieht aus der Sicht seiner Bediensteten: so etwa dem Gärtner, dem Fahrer oder dem Koch. Wer genau liest, ahnt, dass das Machtverhältnis zwischen oben und unten komplexer ist als eine simple Hierarchie.
Mueenuddin: Einer der augenfälligsten Aspekte des pakistanischen Alltags ist die enorme soziale Vernetztheit. Im Laufe eines einzigen Tages habe ich sehr persönliche Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen: sei das der Straßenkehrer oder der Zigarettenverkäufer, mein Fahrer oder meine Tante. Der Kontakt beschränkt sich allerdings nicht allein auf diese einzelnen Begegnungen; vielmehr haben alle das Gefühl verinnerlicht, dass sie etwas von mir verlangen können, dass sie erwarten, dass ich mich für ihre Probleme und Belange interessiere. Und diese komplexe Form der Vernetztheit – innerhalb einer starken Hierarchie – möchte ich zeigen, damit die Leser besser verstehen, aus welchem Stoff das Leben in Pakistan gewebt ist. Einerseits bietet dieses System – aufgrund seiner starken sozialen Verbundenheit – eine Form der Sicherheit. Andererseits verpflichtet es – dort, wo es funktioniert – beide Seiten, sich gegenseitig beizustehen.
Westliche Leser könnten Ihr Buch dennoch eher als eine Kritik am Feudalismus verstehen. Würde Sie das enttäuschen?
Mueenuddin: Ja, das würde es, definitiv. Ich bin ein Romanautor und ich wünsche mir, dass mein Buch wegen seiner literarischen Qualitäten geschätzt wird. Bis zu einem gewissen Punkt ist das aber unvermeidlich, denn ich schreibe über eine Region, die weithin unbekannt ist, über die zurzeit aber weltweit in den Nachrichten berichtet wird. Aber ich kann verstehen, dass Leser das Buch zur Hand nehmen, in der Hoffnung, ein Land besser zu verstehen, aus dem sich derzeit beständig Selbstmordattentäter aufmachen, das komfortable Leben im Westen auseinander zu reißen. Im Laufe der Zeit wird sich das allerdings ändern. In 20 Jahren wird man "Andere Räume, andere Träume" aufgrund seiner literarischen Qualitäten lesen – wenn ich denn das Glück habe, dass man mein Buch dann noch lesen möchte. Wir lesen doch auch Tschechow nicht nur, weil er uns die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erklärt!
In manchen Kritiken wurde Ihr Buch mit "Aufzeichnungen eines Jägers" von Turgenjew verglichen – das seinerzeit aufgrund merkwürdiger Zufälle der Zensur entgehen konnte. Wie wird Ihr Buch in Pakistan rezipiert?
Mueenuddin: Meine Leser sind Freunde und die Familie. Die meisten Pakistaner lesen keine englische Literatur. Und wenn, dann verbringen sie ihre Stunden der Muße sicher nicht mit feingeistigen Literatur und Kurzgeschichten. Insofern stößt das Buch in der pakistanischen Gesellschaft abgesehen von einer kleinen Gruppe von Schöngeistern – Gott segne sie – auf minimale Resonanz.
Gibt es überhaupt eine pakistanische Ausgabe?
Mueenuddin: Nein, ganz bewusst nicht. Denn in Pakistan kann man es sich nur leisten, berühmt zu sein, wenn man auch Einfluss hat und mächtig ist. Ich lebe auf dem Land, und selbst hier fühle ich mich exponiert. Zu viel Aufmerksamkeit ist daher das Letzte, was ich mir wünsche.
Sie sagten zu Beginn, angesichts der Flut versinke Pakistan im Chaos. "Abstieg ins Chaos" lautet auch der Titel eines aktuellen Buchs von Ahmed Rashid, dem renommierten Kenner der Taliban und der Region Pakistan und Afghanistan. Unmittelbar nach Beginn der Flut waren Stimmen zu hören, die davor warnten, dass extremistische Kräfte die Notlage zu ihren Gunsten auszunutzen könnten.
Mueenuddin: Das ist nicht nur eine Möglichkeit, das ist die Realität. Die Extremisten sind extrem clevere Leute, die erkannt haben, dass sich hier für sie eine ganz wunderbare Gelegenheit ergeben hat, die Notlage der Menschen auszunutzen, um sie für sich zu gewinnen. Die Extremisten haben überdies nicht nur viel Geld, sondern vor allem Armeen von Anhängern, die allesamt hochgradig motiviert sind. Sie kommen von hier und wissen daher ganz genau, in welcher Sprache sie zu sprechen haben, um die Herzen der Dörfler, die sie aufsuchen, zu gewinnen. Sie sind Teil des gesellschaftlichen Gewebes dieses Landes.
Von der einen Seite hört man, die Extremisten seien noch immer in der Minderheit und ohne großen Zuspruch seitens der einfachen Leute – die andere Seite warnt vor dem wachsenden Einfluss. Wo liegt die Wahrheit?
Mueenuddin: Alle drei Aussagen sind richtig: A) Die Extremisten sind noch immer in der Minderzahl. B) Die Mehrzahl der Menschen möchte nicht von ihnen regiert werden. C) Ihre Zahl wächst sprunghaft an. Sie sind schwer bewaffnet – und sie haben exzellente Waffen, die sehr effektiv sind. Außerdem sind sie unglaublich gut organisiert. Und sie sind bereit, für ihre Sache zu sterben. Von solchen Leuten braucht es nicht viele, um ein Land zu übernehmen. Ein Mann, der bereit ist zu sterben – und der eine Kalaschnikow hat – ist stärker ist 100 Männer, die sich beglückt darauf freuen, die Sonne am nächsten Tag aufgehen zu sehen. Die Extremisten müssen einfach nur überall postiert sein. In der Region, in der ich lebe, ist genau das passiert. Sie haben Anhänger in jeder Stadt, in jeder kleinen Ortschaft. Und auch wenn ich kein Experte bin: Ich vermute, das gilt für ganz Pakistan.
Im Hinblick auf die Langzeitwirkungen der Flut: Was wäre das schlimmstmögliche Szenario? Und was wäre das bestmögliche Szenario – wenn es das überhaupt gibt?
Mueenuddin: Der schlimmste denkbare Fall wäre eine noch schnelleres Abdriften in den Extremismus und an deren Ende eine gewaltsame Revolution. Und die bestmögliche Situation? Gut, ich gebe Ihnen eine Best-Case-Szenario, das realistisch, das wirklich eintreten könnte. Im Norden Pakistans wird es auf Jahre hin unmöglich sein, die antiwestliche Stimmung zu mindern. Der Norden war fremden Mächten schon immer feindlich gesinnt. Für den Süden des Landes trifft das allerdings nicht zu. Die jetzige Situation bietet die einmalige Möglichkeit, dass der Westen Geld und Personal in den Punjab und Südpunjab schickt, das war vor der Flut nicht möglich. Ein Pakistan, das endgültig im Chaos versinkt, kann die Welt sich nicht leisten. Doch ohne eine solche Intervention fürchte ich genau das. Wenn der Westen jetzt also in maßgeblicher Weise interveniert, besteht die Chance, den Zusammenbruch des Staates nicht nur aufzuhalten, sondern umzukehren.
Interview: Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2010