Erzählen um zu überleben
Die libanesische Schriftstellerin Alawiyya Sobh ist eine selbstbewusste Stimme im arabischen Literaturbetrieb. Schonungslos seziert sie die patriarchale Gesellschaft und legt die Unterdrückung der Frauen offen. Mona Naggar hat sich mit der Autorin über ihren jetzt auf Deutsch vorliegenden Roman, "Marjams Geschichten", unterhalten.
In Ihrem Roman stellen Sie das Gedächtnis der Frauen in den Mittelpunkt. Marjam, die die Rolle einer Chronistin einnimmt, erzählt Geschichten über sich, über ihre Generation, die Generation ihrer Mutter und Großmutter. Bei den jüngeren Frauen fällt auf, dass sie um ihre Emanzipation kämpfen und scheinbar auch mehr Freiheiten für sich durchsetzen. Aber irgendwann in ihrem Leben gibt es einen Bruch. Sie fügen sich, gehen traditionelle Beziehungen ein. Warum scheitern diese Frauen?
Alawiya Sobh: In meinem Buch geht es um die Niederlage der Frauen im Libanesischen Bürgerkrieg. Marjam, die Ich-Erzählerin, träumte von der Liebe und von freien Beziehungen. Aber ihre Träume kollidieren mit der traditionellen Denkweise der Männer, mit ihren Lügen und ihrer Heuchelei. Sie tun so, als wären sie aufgeklärt, als würden sie eine ebenbürtige Beziehung mit Frauen eingehen wollen. Das stimmt alles nicht. So trifft Marjam eine Entscheidung, die sie einige Jahre zuvor nicht getroffen hätte – einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Ähnliches durchlebt ihre Freundin Ibtisam. Ich lasse die Frauen von ihren Beziehungen zu Männern erzählen, über die Unterdrückung, die sie erleben, über den Schock des Bürgerkrieges und die Unmöglichkeit, mit dieser Gesellschaft Frieden zu schließen. Ich verfolge genau die Veränderungen, die die libanesische Gesellschaft durch den Krieg erfahren hat. Der Bürgerkrieg hat eine politisch und konfessionell tief gespaltene Gesellschaft hinterlassen. Trotz des scheinbar modernen Anstriches, den wir hier im Libanon und in anderen arabischen Ländern sehen, erleben wir einen religiösen Backlash. Es gab einmal ein Projekt der Moderne, aber die Gesellschaft hat Rückschritte gemacht – und die Frauen bezahlen den Preis. Diese Sicht vertrete ich im Roman, zumindest für die Generation, die bei mir im Mittelpunkt steht.
Je weiter Marjam in ihrer Frauenchronik voranschreitet, desto mehr Ähnlichkeiten stellen sich zwischen den Geschichten der Frauen in ihrer Familie ein, ihrer eigenen und denen ihrer Freundinnen. In wie weit wiederholen sich die Schicksale der weiblichen Figuren im Buch?
Sobh: Die Niederlagen der Frauen wiederholen sich tatsächlich, aber in veränderter Form. Marjam, Ibtisam und Yasmine haben von Veränderungen geträumt und wurden enttäuscht. Ihre Enttäuschung unterscheidet sich zwar von der Enttäuschung früherer Generationen – aber der weitere Verlauf ihrer Leben ähnelt sich, weil die Realität sich nicht verändert hat. Die Gesetze sind frauenfeindlich und der Fundamentalismus erlebt eine Blüte. Das alles versuche ich wiederzuspiegeln, mit der ganzen Gewalt, die der Realität innewohnt, aber auch mit einer gewissen Ironie. In meinem Roman findet man Passagen zum Weinen, dann muss man wieder Lachen. Die bittere Ironie ist mir wichtig.
Wie ein Roman im Roman schildern Sie die Geschichte von Marjams Mutter. Sie ist das Verbindungsglied zwischen der patriarchalischen Gesellschaft im Dorf und dem Leben in Beirut, wohin die Familie später übersiedelt. Wie wichtig ist Ihnen diese Mutter-Figur?
Sobh: Ich denke, dass das Bild der Mutter im arabischen Roman mit vielen Stereotypen beladen ist. Sie ist schwach, gequält, gehorsam und schweigt. Ich habe mich von diesem Bild befreit, Marjams Mutter eine Stimme gegeben und aus ihr eine facettenreiche Figur gemacht. Sie versucht sich an ihren Mann zu rächen, ärgert ihre Familie. Sie versucht allerlei Dinge, um der Unterdrückung, die sie erlebt Ausdruck zu verleihen. Ich habe mich in ihren Körper und in ihre Seele eingeschlichen und einiges ans Licht gebracht.
Offen beschreiben Sie die Lust und Empfindungen der Protagonistinnen bei der Liebe, aber auch die Gewalt, die Frauen erleben. Dafür mussten Sie schon viel Kritik in arabischen Feuilletons erfahren. Welche Rolle spielt Sexualität in Ihrer Literatur?
Sobh: Wenn ich etwas Licht in die Beziehung zwischen meinen männlichen und weiblichen Figuren bringen möchte, dann ist natürlich die Sexualität unerlässlich. Ich beschreibe die Beziehung zwischen Marjams Mutter und Vater. Dazu gehört auch der erste sexuelle Akt, den sie miteinander hatten. In dieser Szene offenbart sich die patriarchale Gesellschaft und die sexuelle Gewalt in ihrer ganzen Dimension. Das hat mit der Sensationslust, die man mir oft vorwirft, nichts zu tun, sondern eher mit dem Tabu, das dieses Thema bei uns immer noch umgibt. Ich schreibe über die unterdrückte Sexualität, über die ungeheuerliche Angst der Männer vor dem weiblichen Körper.
Die Erzählerin Marjam erinnert an Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht. In wie weit hat Sie dieses Werk inspiriert?
Sobh: In der arabischen Literatur erzählen meistens Männer über Frauenschicksale. Sie definieren uns und bauen ihre eigene Wahrheit auf. In Tausendundeiner Nacht fängt Scheherazade an zu erzählen, um ihr Leben und das Leben anderer Frauen zu retten. Ich habe eine moderne Scheherazade geschaffen. Sie hat das Gedächtnis dreier Frauengenerationen festgehalten und auch mich ins Leben zurück geführt. Der Krieg hat mich zum Schweigen gebracht. Ich fühlte mich wie eine Verschollene des Krieges. Ich musste dieses Buch schreiben, um meine Stimme wieder zu finden. So habe ich Marjam erfunden, die an meiner Stelle erzählt.
Interview: Mona Naggar
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de © Qantara.de 2010
Alawiyya Sobh, 1955 geboren, studierte arabische und englische Literatur. Sie ist Chefredakteurin einer Frauenzeitschrift und lebt in Beirut. In den 80er Jahren erschien von ihr ein Band Kurzgeschichten. 2002 veröffentlichte sie "Marjams Geschichten". Außerdem liegen von ihr vor die Romane "Dunja" (2006) und "Sein Name ist Liebe" (2009).
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