Jäger und Beute
Ägypten im Jahre 2023: An der Nordküste lebt die reiche Oberschicht des Landes in einer abgeschotteten Kolonie im Wohlstand, während hinter den Elektrozäunen das Heer der besitzlosen Bevölkerung ein Dasein im Elend führt – "Utopia". Doch perfekt ist das Leben in "Utopia" keineswegs: Aus Langeweile und Überdruss brechen die Jugendlichen der Stadt zu grausamen Jagden auf – ausgerechnet auf jene Armen, die für sie nur "die Anderen" sind und in denen sie kaum noch Menschen erblicken. Volker Kaminski hat den Roman gelesen.
Niemand in "Utopia" scheint glücklich zu sein. Statt ihr sorgloses Luxusleben zwischen gepflegten Parkanlagen und hochmodernen Malls zu genießen, quälen sich vor allem die jungen Leute mit drückender Langeweile und dem unstillbaren Durst nach Drogen, Sex und Abenteuern.
Der namenlose Ich-Erzähler, der uns "Utopia" näher bringt, ist erst sechzehn, doch er ist völlig desillusioniert und klingt zynisch wie ein alter Kriegsreporter. Er ist klug, belesen und stammt aus einem guten Elternhaus, dennoch bedrängen ihn drastische Gewaltphantasien und er denkt pausenlos darüber nach, wie er sich aus "Utopia" in die Welt "der Anderen" schleichen kann, um dort in den Elendsquartieren den ultimativen Kick zu erleben.
Eine Mischung aus Abscheu und Faszination
Beim Leser erzeugt dieser unsympathische Erzähler eine Mischung aus Abscheu und Faszination. Dem Autor gelingt es, dem Vertreter einer dekadenten, unmoralischen Welt eine authentische Stimme zu geben, die sich über alle möglichen Formen von Gewalt, Todessehnsucht und zynischer Menschenverachtung auslässt. Gäbe es im Roman nicht eine "menschliche" Gegenstimme zu diesem Jungen, ließe sich die Lektüre auf Dauer nur schwer ertragen.
Dem jungen "Utopier" gelingt eines Abends zusammen mit seiner Freundin der (verbotene) Aufbruch aus der Reichenkolonie in die Quartiere der Armen. Der Junge weiß von Anfang an, was er tut, seine "Jagd" ist "eine Art Männlichkeitstest", wie ihn auch sein Freund Rasim bereits bestanden hat, der seitdem mit einer abgehackten einbalsamierten Hand seines Opfers vor der Freundesclique prahlt. Ein solches "wertvolles Andenken" will sich der Junge in den verwahrlosten Vierteln Kairos erjagen. Doch die Sache geht schief, er und seine Freundin werden auf frischer Tat ertappt und geraten in Gefangenschaft.
Gabir, der die beiden gefangen nimmt, empfindet seinerseits tiefen Hass auf "Utopia". Ebenso gebildet wie der Junge, durchblickt er die politischen Zusammenhänge genauer als dieser. Er weiß, dass die "reiche Schicht" durch den Bau "Utopias" die Gesellschaft tief spaltete und dabei die Mittelschicht "zerstörte … so dass sich am Ende zwei Völker herausbildeten". "Utopia" hat ihnen alles geraubt und ihnen keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gelassen. Er ist jedoch besonnener und weniger triebgesteuert als der Junge aus "Utopia" und so sorgt er dafür, dass die beiden vor dem wütenden Mob der Besitzlosen bewahrt bleiben.
Er versteckt sie bei sich zu Hause und verhilft ihnen zur Rückkehr, ohne dazu einen besonderen Grund zu haben. Er tut es nur deshalb, weil er der vielen Toten und Gewaltopfer überdrüssig ist, die es in seiner Welt täglich gibt.
Abkommandiert zu niederen Diensten
Gabir ist im Roman der Vertreter der Armen und Rechtlosen. Doch der Autor bemüht sich ihn nicht allzu "edel" und moralisch integer zu zeichnen. Gabir rächt sich auf seine Weise an den "Utopiern", schickt den Jungen in eins der Schlachthäuser, wo dieser ein paar tagelang im Gestank zwischen verdorbenen Fleischabfällen strapaziöse Arbeit verrichten muss, um sich sein Brot zu verdienen.
Durch die Person Gabirs dringt ein schwacher Lichtschein in die allgemeine Niedertracht der geschilderten Welt. Wie die Geschichte ausgeht, darf an dieser Stelle nicht verraten werden. Obwohl der Roman auf jede ausschweifende Epik verzichtet und die Geschehnisse und Handlungsorte nur angedeutet werden, entstehen vor den Augen des Lesers dennoch eindrückliche Szenarien, die an die apokalyptische "Mad-Max-Welt" erinnern.
Das Erstaunliche aber ist, dass die beiden gezeigten Welten sich auf gewisse Weise ähneln: In beiden Welten herrscht dieselbe Verrohung. Nicht nur in den Bezirken der Recht- und Besitzlosen, sondern auch in der Hightech-Welt "Utopias" sind die Menschen abgestumpft und verkommen.
So hat der Junge am Ende seines Abenteuers nichts gelernt und bleibt so kalt und zynisch wie am Anfang. Doch der Autor lässt es sich nicht nehmen, einen Aufstand der Armen anzudeuten, der in den letzten Seiten des Romans zu rumoren beginnt. Es scheint, als könne eine derart künstliche Isolierung vom Elend, wie es "Utopia" darstellt, niemals auf Dauer gelingen.
Ein packender Zukunftsthriller von hoher literarischer Qualität, hervorragend übersetzt von Christine Battermann. Gleichzeitig ein in seiner radikalen Gesellschaftskritik hoch aktueller Text, in den der Autor auch zeitgenössische Statistiken zu Gewaltverbrechen und Drogenkonsum im heutigen Ägypten einstreut, was seinem "Roman aus Ägypten" umso mehr Brisanz verleiht.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2015
Ahmed Khaled Towfik: "Utopia". Roman aus Ägypten, Aus dem Arabischen von Christine Battermann, Lenos Verlag; 188 Seiten, ISBN 978 3 85787 457 4