Eine Open-Source-Plattform der Revolution
Nur wenige Klicks, und der Zuschauer steht mitten in einer Demonstration vor dem mächtigen Kairoer Fernseh- und Rundfunkgebäude. Plötzlich: Schüsse, Schreie, die Kamera wackelt, in der Ferne heulen Sirenen. Einige Klicks weiter spricht die Mutter eines getöteten Jungen im Leichenschauhaus ihr Leid in die Kamera.
Wenige Tage vor dem siebten Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution haben Aktivisten unter www.858.ma ein Videoarchiv online gestellt. Insgesamt 858 Stunden umfasst das Filmmaterial, fast 36 Tage, und es soll stetig ergänzt werden. Die meisten Videos sind von 2011 und 2012, sie zeigen Demonstrationen gegen die Regierung, staatliche Repression oder Interviews. Wer sich durch das Archiv klickt, ist mittendrin in einer Realität, die die ägyptische Regierung gerne vergessen machen will.
Hinter dem Archiv steht Mosireen, eine lose Gruppierung von Medienaktivisten. Auf dem Tahrir-Platz im Zentrum Kairos hatten sie Mitte 2011 Videos der Aufstände gesammelt und im "Tahrir Cinema" gezeigt.
Bilder von der der ganzen Brutalität des Regimes
Schon während der 18 Tage dauernden Revolte, durch die im Februar 2011 der Langzeitpräsident Husni Mubarak hinweggefegt worden war, hatten viele der späteren Mosireen-Mitglieder Videoclips zusammengetragen und damit die unabhängigen ägyptischen und die internationalen Medien versorgt. Das staatliche Fernsehen hingegen suggerierte, alles sei friedlich. "Wir brauchten Beweise, Bilder von den Tötungen, von den gefolterten Körpern in den Leichenschauhäusern, von der ganzen Brutalität des Regimes", erklärt eine Aktivistin aus dem 858.ma-Team.
Dass sie anonym bleiben möchte, ist verständlich: Der Kampf um die Deutungshoheit ist in vollem Gange – doch der Staat hat die größeren Mittel. Für ihn sind die Aufstände Chaos, Bedrohungen der inneren Sicherheit. Die viel größere Revolution sei der 3. Juli 2013 gewesen: An diesem Tag entmachtete das Militär den zwar unbeliebten, aber demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi. Der hatte den demokratischen Auftrag gründlich missverstanden und versucht, das Land gemäß den Vorstellungen seiner Muslimbruderschaft umzubauen.
Der starke Mann im Staat war und ist der damalige Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte und heutige Präsident, Abdel Fattah al-Sisi. Er nutzte die immer stärker werdende Polarisierung im Land, um das Militär als einzig verlässliche Ordnungsmacht zu präsentieren. Das ermöglichte ihm, zum einen die Muslimbrüder – den Machthabern schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge – und zum anderen sämtliche kritischen, von der offiziellen Lesart abweichende Stimmen mundtot zu machen.
Dazu hat die Regierung beispielsweise ein viel kritisiertes Protestgesetz auf den Weg gebracht, das spontane Demonstrationen unter drakonische Strafen stellt. Das bisher letzte auf 858.ma hochgeladene Video zeigt eine Demonstration gegen dieses Gesetz.
Manipulierte und instrumentalisierte Bilder
Nicht nur die Mosireen-Mitglieder sehen in der Revolte den Beginn einer der größten Umwälzungen in der jüngeren Geschichte der arabischen Welt. "Es ist das wichtigste, das in unserem Leben passiert ist", sagt die Aktivistin aus dem 858-Umfeld. "Aber das Regime manipuliert die Bilder, verändert ihre Bedeutung. Deshalb ist es unsere Pflicht, um das Narrativ zu kämpfen und aktiv die Geschichte mitzuschreiben." Dabei sei es bewusst den Nutzerinnen und Nutzern überlassen, was sie mit dem Archivmaterial machten. Die Videos sind roh, ungeschnitten und mit Zeitstempeln versehen – so lassen sie sich leicht bearbeiten.
Hunderte Aktivisten habe es jahrelange Arbeit gekostet, das Material zu sammeln, zu sichten, zu ordnen, zu verschlagworten und schließlich auf der Open-Source-Plattform hochzuladen. Vielleicht ist es kein Wunder, dass Mosireen nach einer Zeit relativer Funkstille mit einem solchen, seine Kraft eher indirekt entfaltenden Projekt an die Öffentlichkeit tritt. Denn auch für das Kollektiv wurden die Spielräume angesichts zunehmender staatlicher Repression geringer.
"Nach dem Rabaa-Massaker 2013 hatte alles keinen Sinn mehr", sagt die Aktivistin. Damals wurde ein großes Protestcamp, das die Muslimbrüder nach der Entmachtung durch das Militär auf dem Kairoer Rabaa al-Adawiya-Platz eingerichtet hatten, brutal und mit etwa 1.000 Toten geräumt. Auch um diese Zahl ist – natürlich – ein Krieg entbrannt. Mehr noch: "Das Regime begann, aktiv unsere eigenen Bilder und Videos für ihre Zwecke zu benutzen. Wir brauchten Zeit, um unsere Stimmen neu zu finden."
Mosireen suchte andere Ausdrucksformen: In "Out on the street", einem Film von Philip Rizk und Jasmina Metwaly, werden Ungerechtigkeit, Polizeiwillkür und Korruption beschrieben – alles Gründe für den Aufstand von 2011. Der Roman "The City always wins" von Omar Robert Hamilton, ebenfalls Teil von Mosireen, beschreibt atemlos und detailreich, wie Mitglieder des fiktiven Medienkollektivs "Chaos" während der Revolution für ihre Sache arbeiteten.
Den 858.ma-Aktivisten geht es nicht darum, das einzig wahre Narrativ der Revolution zu erzählen. Das wäre vermessen. Doch das Archiv ist ein Mittel zum Zweck, der Wahrheit der Regierung etwas entgegenzusetzen. Auch wenn die Mosireen-Aktivistin sich sicher ist: "Wenn ich mir die ganzen Videos anschaue, ist das Narrativ stärker als alle Manipulationsversuche."
Alaa Abdel-Fattah – Ikone des Widerstands
Kämpfe um Deutungshoheiten werden stets auch über Symbole ausgefochten. Solch ein Symbol ist Alaa Abdel-Fattah, Mitglied einer der berühmtesten Dissidentenfamilien des Landes. Für die Revolutionsanhänger ist er eine Inspiration, ein "unkontrollierbarer freier Geist", wie die Mosireen-Aktivistin ihn nennt. Für den Staat macht ihn genau das so gefährlich, weswegen er Abdel-Fattah lange hinter Gitter gebracht hat. Gewährte sein Bekanntheitsgrad ihm früher noch Schutz, weht heute ein anderer Wind, so die Botschaft.
Auch in den über 1.600 Videos des 858.ma-Archivs spielt Abdel-Fattah eine Rolle. Die Frage wird sein, wie die Regierung mit der Fülle an Material umgeht: Konkrete Menschenrechtsverletzungen werden anhand der Videos schwer nachzuweisen sein. Gut möglich, dass die Regierung es einfach aussitzt. Der Kampf um die Symbole und Bilder geht weiter, auch im achten Jahr der ägyptischen Revolution.
Christopher Resch
© Qantara.de 2018