Armut lässt sich nicht verbieten

Ein ägyptisches Kind einen Karren mit Zementziegeln in einer Ziegelfabrik
Mehr als eine Million Kinder arbeiten in Ägypten, wie hier in einer Ziegelfabrik nahe Kairo. (Foto: Picture Alliance / AP | Kh. Hamra)

Ob Supermärkte, Werkstätten oder Fabriken – Kinderarbeit ist in Ägypten allgegenwärtig. Ein neues Gesetz soll sie eindämmen, doch Vorschriften allein werden die strukturellen Probleme kaum beheben.

Von Rehab Eliawa

Nachts streicht Karim Abdallah zwischen den Cafés nahe dem historischen Abdeen-Palast im Zentrum Kairos umher. Der hagere Jugendliche in abgetragener Kleidung hält eine Packung Süßigkeiten in der Hand und bietet sie den Gästen an.

Nach vier Stunden hat Karim alle seine Süßigkeiten verkauft. Sein Verdienst: knapp 300 Pfund (etwa fünf Euro). Damit kehrte er nach Hause zurück, in das Armenviertel al-Basateen.

Karim besucht die sechste Klasse der Grundschule. Nach Unterrichtsschluss geht der Junge zur Arbeit, um den Lebensunterhalt für seine fünf Geschwister und seine Mutter zu verdienen. Der Vater hat die Familie verlassen.

Karim wechselt zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Die schwerste, erinnert er sich, war in einer Werkstatt: „Ich habe von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends gearbeitet, für 600 Pfund (etwa elf Euro) pro Woche.“

Ein neues Arbeitsgesetz, das Anfang September in Kraft getreten ist, kriminalisiert Karims Arbeit und die der anderen Kinder. Sie gilt nun als „indirektes Betteln“. Hinzu kommt, dass Karim das gesetzliche Mindestalter von 15 Jahren zur Aufnahme einer Arbeit noch nicht erreicht hat.

Laut dem Gesetz darf Arbeit die Kinder nicht daran hindern, die Schule zu beenden. Auch sind Arbeitszeiten zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens sowie gefährliche Arbeitsumgebungen für Kinder verboten. 

Karims Arbeit ist gefährlich; er geht oft zwischen den Autos auf der Hauptstraße umher, um seine Ware zu verkaufen.

Es arbeiten über eine Million Kinder

Karim ist kein Einzelfall. Auch in Al-Omraneya in Gizeh, einer Gegend im Großraum Kairos mit vielen einkommensschwachen Familien, fällt die Kinderarbeit sofort ins Auge: Kinder backen stundenlang Brot an Feueröfen, arbeiten bei Mechanikern oder im Supermarkt oder fahren Tuk-Tuk, dreirädrige Taxis. 

Einer von ihnen ist Mustafa. Der 14-Jährige arbeitet morgens sechs Stunden lang, dann geht er in die Abendschule. Er arbeitet, um seiner siebenköpfigen Familie zu helfen, und blickt mit Stolz auf seine Arbeit: „Ich stärke meinem Vater den Rücken“, erklärt er.

2021 lag der Anteil der arbeitenden Kinder in Ägypten bei schätzungsweise 4,9 Prozent, das entspricht etwa 1,3 Millionen Kindern. 900.000 von ihnen waren gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Laut einer Erhebung des Nationalen Rats für Kindheit und Mutterschaft stieg die Zahl 2023 auf mehr als 2,7 Millionen Kinder, 62 Prozent von ihnen zwischen 14 und 16 Jahren alt.

Normalisierung von Kinderarbeit

Die Wahrscheinlichkeit von Kinderarbeit steigt mit dem Grad der Armut und der Größe der Familie. Wirtschaftliche Notwendigkeit drängt die Kinder auf den Arbeitsmarkt. 

Die Forscherin Shaimaa Khairy Abdel-Magid hat an der Cairo-Universität in der Studie „Armut und Kinderarbeit in Ägypten“ eine Gruppe von 14.000 arbeitenden Kindern untersucht. Die Studie zeigt, dass der Anteil der Kinderarbeit in ländlichen Gebieten höher ist als in städtischen, was auf die dort höheren Armutsraten zurückzuführen ist.

Laut einem Bericht der Weltbank von 2024 ist die Armutsrate in Ägypten im Jahr 2024 auf über 30 Prozent gestiegen. Das trägt dazu bei, dass ein großer Teil der ägyptischen Gesellschaft Kinderarbeit als normal ansieht.

Armut sei der zentrale Faktor, so der Menschenrechtsanwalt und Leiter des Kinderrechtsnetzwerks, Ahmed Masilhi. „Die Ausbeutung von Kindern sowie Verletzungen ihrer Rechte haben zugenommen. Das ist ein Ergebnis der schlechten Wirtschaftslage und mangelnder Sozialhilfe“, sagt er gegenüber Qantara. 

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Immer wieder führen dramatische Unfälle die Gefahren von Kinderarbeit vor Augen. Ernsthafte Maßnahmen werden jedoch nicht ergriffen. Beim jüngsten Ereignis im Juni überschlug sich ein Transporter, auf dem sich zwanzig Mädchen zwischen 14 und 23 Jahren befanden. Alle kamen ums Leben. Sie hatten bei der Traubenernte in Monufia geholfen. 

Auch geflüchtete Kinder sind von Ausnutzung betroffen. Lokale Medien berichten, dass sudanesische Kinder in der Stadt des 6. Oktober im Großraum Kairo Müll aufsammeln. Seit Ausbruch des Krieges im Sudan im April 2023 hat Ägypten laut offiziellen Berichten etwa 1,5 Millionen sudanesische Flüchtlinge aufgenommen. Während ägyptische Kinder vor allem wegen Armut arbeiten müssen, sind Geflüchtete die vulnerabelste Gruppe und der Ausbeutung am stärksten ausgesetzt.

Der Plan der Regierung

Die teilweise Anerkennung der Tragweite dieses Phänomens durch die Regierung spiegelt sich in der Ankündigung eines nationalen Plans zur „Bekämpfung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit in Ägypten“ wider, der in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entwickelt worden ist. Die erste Phase wurde von 2018 bis 2025 umgesetzt, die zweite soll bis 2030 andauern. Menschenrechtsaktivist:innen halten ihn jedoch für oberflächlich und unzureichend.  

Die Regierung verweist auf Errungenschaften wie „die Verabschiedung des neuen Arbeitsgesetzes, die Einrichtung von Abteilungen im Arbeitsministerium zur Bekämpfung von Kinderarbeit, den Abschluss von mehr als 20.000 Verträgen zur beruflichen Integration von Kindern zwischen 15 und 18 Jahren und die Unterstützung von 1.000 Mikroprojekten für Familien von Kindern, die Kinderarbeit verrichten.“

„Das neue Arbeitsgesetz enthält klare Vorgaben, darunter das Mindestalter und die Art und Dauer der Arbeit“, sagt Ihab Mansour, Mitglied des Ausschusses für Arbeitskräfte des ägyptischen Repräsentantenhauses. „Es verbietet Kindern, länger als sechs Stunden zu arbeiten. Eine einstündige Pause ist vorgeschrieben. Der Rest ist eine Frage der Durchsetzung und der Bereitstellung der erforderlichen Mittel, hier muss Fachpersonal aufgestockt werden“, erklärt er gegenüber Qantara. Das ägyptische Arbeitsministerium reagierte nicht auf eine diesbezügliche Anfrage. 

Masilhi, der Leiter des Kinderrechtsnetzwerks, bemängelt, dass in all den Jahren seiner Arbeit in dem Bereich immer dieselben Methoden zur Bekämpfung des Problems herangezogen worden seien. Es seien Konferenzen organisiert und Pläne und Gesetze erlassen worden, die jedoch nur auf dem Papier existierten. Er fordert mehr Regierungsausschüsse, die Kinderarbeit im ganzen Land überwachen.

Vorzeitige Schulabgänger

Außerdem sollte der Nationale Rat für Kinder Inspektionen durchführen, um Kinderarbeit zu verhindern. „Er sollte sich zudem in Zusammenarbeit mit anderen Regierungsbehörden wie dem Ministerium für Solidarität um Familien kümmern, die ihre Kinder aufgrund von Armut zur Arbeit schicken. Dies geschieht jedoch in der Regel nicht”, so Masilhi. 

Dass immer mehr Kinder die Schule abbrechen, um zu arbeiten, hat die Behörden dazu veranlasst, arme Familien unter der Bedingung finanziell zu unterstützen, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen. In diesem Rahmen wurde beispielsweise 2015 die Initiative „Zusammenhalt und Würde“ ins Leben gerufen. Die Zahlungen der Initiative betragen jedoch lediglich 900 Pfund pro Monat (etwa 16 Euro).

Der Leiter des Kinderrechtsnetzwerks lobte diesen Schritt, betonte jedoch, dass solche Programme auf alle Bedürftigen ausgeweitet und die Zahlungen entsprechend den Preissteigerungen und Inflationsraten erhöht werden müssten.


Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung aus dem Arabischen von Leonie Nückell.

 

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