„Die Gen Z hat die politische Elite überrascht“

Eine Menschenmenge im Freien, sie schwenken eine marokkanische Flagge.
Aufstand der Jugend: Kundgebung in Casablanca, 5. Oktober 2025 (Foto: Picture Alliance/ AP Photo | M. Elshamy)

Seit Wochen gehen in Marokko junge Menschen als „Gen Z 212“ auf die Straßen. Sie fordern Gesundheits- und Bildungsreformen – und bringen eine tiefgreifende Legitimitätskrise des politischen Systems ans Licht, sagt Protestforscher Mohamed Sammouni.

Interview von Imad Stitou

Qantara: Was überrascht Sie als Protestforscher an den jüngsten Demonstrationen in Marokko? 

Mohamed Sammouni: Es war abzusehen, dass eine Jugendprotestbewegung mit sozialen Forderungen entstehen würde. Viele Studien hatten vorausgesagt, dass es von der Jugend ausgehende soziale Unruhen geben würde, wenn keine grundlegenden Reformen des politischen Systems angestoßen werden. 

2023 stellte beispielsweise ein Bericht des marokkanischen Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrats fest, dass die 1,5 Millionen Jugendlichen ohne Arbeit oder Ausbildung eine „Zeitbombe“ in der marokkanischen Gesellschaft seien. So gesehen sind die Proteste der Generation Z an sich keine große Überraschung und man dachte, dass vor der Parlamentswahl nächstes Jahr ein gewöhnlicher Wahlkampf bevorstünde. 

Aber die Art der Organisation hat Beobachter:innen und einen Teil der politischen Elite überrascht. Besonders interessant finde ich, dass diese Proteste mit traditionellen Protestformen brechen: Bislang hatten Parteien und Gewerkschaften zu bestimmten Anlässen Demonstrationen organisiert, was oft eine folkloristische Form annahm, ohne ernsthaft politisch zu sein.        

Mohamed Samouni. (Private)
Wissenschaftler

Mohamed Sammouni ist unabhängiger Forscher im Bereich der politischen Soziologie und hat einen Doktortitel in Politikwissenschaft von der Hassan-II.-Universität in Casablanca. Seine Dissertation befasste sich mit Protestbewegungen in Marokko.

Wie erklären Sie die neue Dynamik? 

Auf Videos war zu sehen, dass junge Frauen und Männer ihr Recht auf friedlichen Protest verteidigten. Dabei gingen sie von Anfang an verantwortungsvoll vor; sei es in ihrem Umgang mit der Polizei und ihrer Verurteilung von Festnahmen durch den Slogan „Dazu hast du kein Recht!“ oder durch ihr Bestreben, die täglichen Kundgebungen gewaltfrei zu gestalten (drei Menschen sind bei den Protesten ums gekommen, d. Red.).  

Die wichtigste Veränderung ist jedoch, wie die öffentliche Debatte über die App Discord geführt wurde. Diese jungen Leute unterscheiden sich in ihrer Mentalität, ihrer Zusammensetzung und ihrer Sprache von den meisten politischen Akteuren – auch von der etablierten außerparlamentarischen Opposition.  

Bei Discord kommen Aktivist:innen und Intellektuelle zusammen, die sich aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen hatten oder gecancelt worden waren. Der digitale Raum ermöglicht es ihnen, ihre Meinungen und Analysen zu den Ereignissen in Marokko zu äußern.  

Die Demonstrierenden konzentrieren sich auf zwei Hauptforderungen: die Verbesserung des Gesundheits- und des Bildungssystems. Was leiten Sie daraus ab? 

Der Fokus auf soziale Forderungen spiegelt die Reife dieser Protestbewegung wider, die den öffentlichen Sektor in den Mittelpunkt stellt. Die Jugendlichen prangern den eklatanten Widerspruch zwischen der Sozialstaat-Rhetorik einerseits und den Großprojekten der Regierung an, die der Unterhaltung dienen. Der unmissverständliche Slogan lautete: „Wir wollen keine Weltmeisterschaft, wir wollen zuerst Gesundheit”. 

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Marokko richtet die Fußball-Weltmeisterschaft 2030 zusammen mit Portugal und Spanien aus. Gehen die marokkanischen Investitionen in das internationale Image zu Lasten der sozialen Bedürfnisse der Bürger:innen, zum Beispiel auch die Investitionen in grünen Wasserstoff?  

Dieser Trend ist nicht neu und hat früher schon zu lokalen Protestbewegungen geführt, beispielsweise 2017 in den Städten Al Hoceima und Jerada. 2011 war es zu Protesten in Khouribga und Youssoufia gekommen, da das staatliche Phosphat-Unternehmen OCP keinen Beitrag zur regionalen Entwicklung geleistet hatte, etwa durch Beschäftigung junger Menschen.  

Ähnliche Proteste haben wir auch gegen das Solarenergieprojekt Noor in Ouarzazate gesehen, das den Staat offiziellen Berichten zufolge jedes Jahr 80 Millionen Dollar gekostet hat. 

Da solch wenig überzeugende Projekte zur Regel geworden sind, hat sich die Unzufriedenheit in verschiedenen Regionen Marokkos verfestigt. Laut Nationalem Rat für Menschenrechte hat es allein 2023 mehr als 11.000 Protestaktionen gegeben. 

Die jungen Menschen haben verstanden, dass die aktuelle Politik das vernachlässigt, was für den Staat Priorität sein sollte: hochwertige Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem.  

Wurde die Generation Z in Marokko von Protestbewegungen in anderen Ländern wie Nepal und Madagaskar beeinflusst? 

Sicherlich. Die Organisation über Discord, die Art des Protests zu Beginn und der Name der Bewegung selbst („Gen Z 212“) scheinen aus Madagaskar und Nepal inspiriert. Junge Menschen sind heute vielleicht mit dem internationalen Geschehen besser vertraut als mit dem, was in den Parlamentskammern oder Ministerien Marokkos geschieht. Das ist nicht neu, schon beim Arabischen Frühling 2011 haben wir Ähnliches erlebt.  

Beobachter:innen glauben, dass die aktuellen Proteste nicht nur eine Regierungskrise, sondern eine Krise des gesamten politischen Systems zu Tage fördern. Stimmen Sie dem zu? 

Wir sehen in Marokko seit Jahren eine politische Krise, die aus dem Bedeutungsverlust politischer und gesellschaftlicher Vermittler wie Parteien und Zivilgesellschaft resultiert. Sogar Gewerkschaften, für die soziale Fragen im Zentrum stehen, vertreten nur einen Teil der Arbeiterklasse.  

Die aktuellen Proteste sind trotz ihrer sozialen Forderungen politischer Natur. Nachdem eine Reaktion der Regierung auf die Forderungen ausgeblieben war, fügte die Bewegung ihren Forderungen eine dezidiert politische hinzu: die Entlassung der Regierung von Aziz Akhannouch. Die Jugendlichen wollen die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. 

Die Jugendprotestbewegung ist mit keiner politischen Partei affiliiert und lehnt seit ihrer Gründung offiziell jede Verbindung zu politischen Organisationen ab. Die politische Krise ist strukturell. Wir sehen eine Pattsituation, die zeigt, dass das Vertrauen in die Vermittlerrolle der Regierung fehlt. Die Protestbewegung drängt darauf, mit denen zu sprechen, die tatsächlich regieren, und nicht nur mit denen, die die Regierung nach außen vertreten. 

Wie interpretieren Sie die Reaktion auf die Proteste? 

Wichtig ist, dass sich die zeitlichen Vorstellungen der Protestierenden grundlegend von denen des politischen Systems unterscheiden. Die Protestbewegung besteht auf einer sofortigen Reaktion auf ihre Forderungen, während der Staat zögerlich agiert, insbesondere, wenn es um Reformen geht.  

Welche Auswirkungen das noch haben wird – sei es eine anhaltende Mobilisierung oder ein Rückgang der Proteste – wird davon abhängen, wie die politische Führung kommuniziert und wie sich die lokalen Behörden verhalten.  

Die jungen Menschen hatten große Hoffnungen, dass König Mohammed VI. am 10. Oktober in seiner Rede im Parlament auf ihre Forderungen eingehen würde. Er hat ihre Erwartungen aber nicht erfüllt. Kann die Bewegung noch echte Zugeständnisse erreichen oder dienen die Proteste lediglich dazu, der Wut Luft zu machen? 

In Diskussionen auf Discord wird klar, dass die jungen Leute enttäuscht sind, dass der König nicht auf ihre zentrale politische Forderung, nämlich den Rücktritt der Regierung Akhannouch, eingegangen ist. Das könnte zu einem Rückgang der Straßenproteste oder aber zu weiteren politischen Forderungen führen. 

Beide Szenarien können das Mobilisierungspotential beeinträchtigen, insbesondere wenn Proteste künftig mit Gewalt aufgelöst oder die Verhaftung und Strafverfolgung der Aktivist:innen fortgesetzt werden. Ob es zu einer dauerhaften Protestbewegung kommt oder ob die Proteste substanzielle Zugeständnisse erzwingen können, wird sich zeigen.  

 

Dies ist eine überarbeitete und leicht gekürzte Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung: Vanessa Barisch. 

 

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