Was die Geschichte lehrt

Im Dezember 1996 wurde ich nach 16 Jahren in den Gefängnissen von Hafis al-Assad aus der Haft entlassen. Damals war ich 36 Jahre alt. Das einzige Ereignis, das in meinem Leben eine vergleichbare Bedeutung hat, ist der Sturz des syrischen Regimes im Dezember des Jahres 2024. Ich war mittlerweile 64 Jahre alt.
Die Zerstörung der Gefängnisse und Geheimdienstzentralen in Damaskus, zuvor schon in Aleppo, war das sichtbare Zeichen dafür, dass sich unser lang unterdrücktes Land aus der kollektiven Haft befreien konnte, in die es die Assads gesperrt hatten. Drei Wochen später traf ich in Damaskus ein, zum ersten Mal nach elf Jahren, zwei Monaten und 18 Tagen im Exil.
»Alle historischen Wendepunkte waren Ergebnis von Gewalt«
Das Ende der Assad-Herrschaft gehört zu den vier großen Ereignissen in der Geschichte Syriens seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Das erste war die Ausrufung des Königreichs Syrien durch Faisal I. im Jahr 1920, als das Osmanische Reich seine Gebiete im Nahen Osten nach dem Ersten Weltkrieg verloren hatte. Es war der Versuch, Syrien als modernen Nationalstaat zu denken, für den es so kein historisches Vorbild gab. Nur wenige Monate später übernahm Frankreich das Territorium auf Grundlage eines Völkerbundmandats.
Es dauerte 26 Jahre bis zum endgültigen Abzug der französischen Truppen am 17. April 1946, dem heutigen Unabhängigkeitstag. Auf dieses Ereignis folgte ein Vierteljahrhundert politischer Unruhen. Mit der Machtübernahme durch Hafis al-Assad im Jahr 1970 begann die Schreckensherrschaft. Und nun, 54 Jahre später: der vierte Wendepunkt, der Sturz des Regimes. Er markiert den Beginn der »Nach-Assad-Zeit«. Doch was bedeuten uns diese vier historischen Einschnitte?
Die erste syrische »Gründung«, jene von 1920 unter Faisal, war eigentlich keine. Das Land wechselte nur den Eigentümer, die Franzosen übernahmen es von den Osmanen. Die Syrer erlangten keine Freiheit; im Gegenteil: Die Franzosen arbeiteten aktiv daran, genau das zu verhindern. Erst mit der Unabhängigkeit 1946 wurde endlich der Versuch unternommen, sich den inneren Konflikten und Problemen unseres noch immer jungen Landes zu stellen und sie gemeinsam zu lösen.
Einige dieser Probleme betrafen die ethnisch, religiös und konfessionell diversen Bevölkerungsgruppen, für deren Zusammenleben es kein Vorbild gab. Andere hatten mit der Situation der Bauern zu tun. All dies fand in einem schwierigen geopolitischen Kontext statt, der geprägt war durch zwei Faktoren: erstens die Gründung Israels im Jahr 1948 auf Kosten des Volkes der Palästinenser; zweitens den Beginn des Kalten Krieges.
In Syrien herrschte damals politische Instabilität, zwischen 1949 und 1970 kam es zu mehreren Militärputschen. Der letzte brachte nach der vernichtenden arabischen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg von 1967 den damaligen Verteidigungsminister Hafis al-Assad an die Macht.
Assad senior regierte dreißig Jahre lang. Seine Mittel waren die politische Repression, Masseninhaftierungen und Massaker an der Zivilbevölkerung. Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm Hafis' Sohn Baschar. Die Familie Assad regierte Syrien also insgesamt mehr als ein halbes Jahrhundert.
Das ist nicht nur deshalb lang, weil es mehr als die Hälfte der gesamten Staatsgeschichte des modernen Syrien ausmacht, sondern wegen unserer Demografie: 96 Prozent der Einwohner sind heute unter sechzig Jahre alt, die überwiegende Mehrheit hat bewusst nie etwas anderes als das Assad-Regime erlebt.
Syrien braucht eine lebendige politische Kultur und eine konstruktive öffentliche Debatte. Stattdessen haben wir die letzten 14 Jahre Revolution, Krieg und entsetzliches menschliches Leid erlebt. Wie soll daraus etwas Zukünftiges für unser Land entstehen?
All die historischen Wendepunkte, von denen die Rede war, sind das Ergebnis von Gewalt gewesen, von zwei Weltkriegen, einem Nahostkrieg, einer Revolution und schließlich einem Bürgerkrieg. Nach jedem dieser Wendepunkte waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schwierig: die französische Besatzung in der ersten Phase, die Militärputsche in der zweiten und schließlich die staatliche Tyrannei der Assads.
Und auch nun, nach dem Ende der Diktatur, sind unsere Probleme geradezu chronisch: Kurz nachdem Baschar al-Assad nach Moskau geflohen war, griff Israel Syrien an, zerstörte Militäreinrichtungen und begann, neue Gebiete zu besetzen, noch zusätzlich zu den seit 1967 gehaltenen Golanhöhen. Weitere Angriffe folgten im Juli, vorgeblich zum Schutz der Drusen. Außerdem befinden sich weiterhin US-amerikanische, russische und türkische Truppen auf syrischem Boden, auch wenn sie stillhalten.
Die Zusammensetzung der neuen Eliten ist problematisch
Drei Monate nach dem Regimewechsel kam es zu massiver Gewalt an der Küste, wo die Mehrheit der syrischen Alawiten lebt, rund zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung. Dabei wurden Verbrechen begangen, die stellenweise den Charakter von Massakern hatten.
Hier kommen zwei Faktoren zusammen: Erstens glauben viele Syrer, dass vor allem die alawitische Bevölkerung das Assad-Regime unterstützte, das wiederum in den Jahren der Revolution und des Krieges gezielt sunnitische Regionen tyrannisiert hatte. Zweitens gibt es einen religiös motivierten Hass, der sich aus der so wahrgenommenen Andersartigkeit des alawitischen Glaubens nährt, den viele für eine bedrohliche Geheimlehre halten.
Doch die Alawiten sind nicht die einzige unter Druck stehende Minderheit. Immer wieder trifft es auch Drusen, die etwa drei Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen. Sucht man nach Gründen für diese Gewaltausbrüche, muss man verstehen, dass es unter den syrischen Sunniten, etwa siebzig Prozent der Bevölkerung, eine Mischung aus aufgestautem Zorn und neuen Allmachtsfantasien gibt. Die Wut ist auf die diskriminierende Gewalt des Assad-Regimes zurückzuführen, unter der viele Sunniten litten. Viele meinen sich nun an ihren vorgeblichen Peinigern ungehindert und brutal rächen zu können. Natürlich trifft es dabei ständig auch völlig Unschuldige.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Abkommen über die Integration der kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens (Syrian Democratic Forces, SDF) in den neuen syrischen Staat zu verstehen. Es wurde bereits im März 2025 abgeschlossen, bislang aber noch immer nicht umgesetzt. Dabei geht es unter anderem darum, die SDF in staatsnahe zivile und militärische Institutionen einzugliedern und die kurdische Gemeinschaft als wichtigen Bestandteil des syrischen Staates mit vollem Staatsbürgerrecht anzuerkennen. Die Kurden machen immerhin acht bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

„Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie“
Überlebende der Anfang März in syrischen Küstenstädten entfesselten Gewalt erzählen Qantara ihre Geschichte. Warnung: Die Berichte enthalten Details über die wahllosen Tötung von alawitischen Zivilist:innen und können verstörend sein.
Die grundsätzlichen Probleme, die die verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus historischen Gründen miteinander haben, werden durch die schwierige wirtschaftliche Lage Syriens noch verstärkt. Rund neunzig Prozent der Syrerinnen und Syrer leben unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar am Tag. Das ist das Ergebnis von jahrelangem Krieg, aber auch westlicher und amerikanischer Sanktionen, die weniger den Eliten unter Assad als vielmehr der Zivilbevölkerung die Lebensgrundlage entzogen.
Problematisch ist zudem die Zusammensetzung der neuen Elite. An erster Stelle ist hier Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) zu nennen, das Bündnis von Milizen, das die Truppen von Assad schlug und dessen ehemaliger Anführer Ahmed al-Scharaa nun der Übergangspräsident des Landes ist. Es ging aus der Al-Qaida-nahen Gruppe Jabhat al-Nusra hervor. Offiziell hat es sich zwar von Al-Qaida getrennt und präsentiert sich heute als Teil der syrischen Revolution.
Nach dem Umbruch wurde die HTS aufgelöst, die Kämpfer sind in die syrische Armee eingegliedert worden. Doch es bleibt zweifelhaft, ob die vielen unterschiedlichen Fraktionen, die an dem Sturz des Assad-Regimes beteiligt waren, zur Zusammenarbeit zu bewegen sind. Manche sind extremistisch, einige bestehen aus ausländischen Dschihadisten, wieder andere sind vor allem zutiefst korrupt und haben eine lange Liste von Verbrechen begangen. Angesichts dieser Situation bleibt es sogar fraglich, ob das Verteidigungsministerium künftig wirklich über das Waffenmonopol verfügen wird.
Zu all diesen schwerwiegenden und offenkundigen Problemen kommt noch ein weniger bekanntes hinzu, über das bisher viel zu wenig gesprochen wird: die ökologische Krise. Während meines Aufenthalts im Januar 2025 in Damaskus, Homs, Latakia und Suwaida fiel in diesem sonst kalten und regenreichen Monat nur ein einziges Mal für wenige Minuten Regen (in Damaskus). Bei meinem zweiten Besuch von Mitte Mai bis Mitte Juni war die Hitze extrem, vergleichbar nur mit den sonst heißen Monaten Juli und August. Der gesamte Nahe Osten ist vom globalen Klimawandel betroffen.

Ist der Nahe Osten auf extreme Hitzewellen vorbereitet?
Der Klimawandel wird zu mehr Hitzewellen im Nahen Osten und in Nordafrika führen, die auch mehr Todesopfer fordern, sagen Experten. Mit Blick auf die Region lasse sich aber auch Positives lernen.
Es ist absehbar, dass es nach den politisch bedingten Flüchtlingswellen von vor zehn Jahren zu verstärkten Klimamigrationen kommen könnte. Diese Probleme werden durch das immense Bevölkerungswachstum – von sechs Millionen 1970 auf rund 25 Millionen heute – nochmals verschärft. Es droht die Gefahr, dass Syrien die Chance auf einen Neuanfang verspielt, wie schon so oft in der Geschichte des Landes.
Das historische Erbe scheint zu schwer zu wiegen: Die Franzosen haben unser Land mehrfach neu aufgeteilt und sozusagen seine arabisch-islamische Substanz geschwächt. Die frühe Unabhängigkeitsbewegung wollte die koloniale Ordnung überwinden und zu einer sunnitisch geprägten Zentralmacht zurückkehren wie früher die Osmanen – diesmal allerdings mit einer arabischen Kultur und in Abgrenzung zur Türkei.
Die antiliberale Assad-Herrschaft wiederum kann man religiös-politisch betrachtet als Rückkehr zur Logik des französischen Kolonialismus verstehen. All das hat zu einer tiefen Krise des Vertrauens in die Einheit des Staates geführt.
Die neuen Herrscher scheinen eine Art modernes, post-osmanisches »Millet-System« einsetzen zu wollen, sprich relative Autonomie der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Glaubensfragen in einem multiethnischen und multireligiösen Staat. Doch auch dieser Ansatz wirkt hilflos und könnte bald erneut an den ungelösten inneren Widersprüchen des Landes scheitern.
Die größte Gefahr, die Syrien heute droht, ist allerdings eine Krankheit, die uns schon seit Jahrzehnten plagt: die der Tyrannei. Unter den verschiedenen politischen Tendenzen, die es heute in Syrien gibt, ist die stärkste wohl jene zur Machtkonzentration in den Händen jener sunnitischen Kräfte, die das Assad-Regime gestürzt haben. Das bedeutet eine Verschmelzung von Staat und Religion. Dies führt zwangsläufig zu konfessioneller Diskriminierung. Die diversen Gruppen werden gegeneinander ausgespielt, damit die eigene Herrschaft gesichert bleibt. So lief es im Prinzip während der Assad-Ära, es scheint sich nun zu wiederholen.
»Der syrische Neuanfang ist prekär«
Diese Kombination aus Tyrannei und Sektierertum führt fast zwangsläufig zu extremer, oftmals sogar genozidaler Gewalt. Ohne eine entschlossene Reaktion auf diese Bedrohung wird Syrien keins seiner komplexen Probleme lösen können: weder die Bedrohung von außen, etwa durch israelische Angriffe, noch die ökonomische Misere, noch jene, die aus der Klimaerwärmung resultiert.
Für all das bräuchte es internationale Kooperation. Was allein in den Händen der Syrerinnen und Syrer liegt, ist, die richtigen Lehren aus ihrer Geschichte zu ziehen, insbesondere was Tyrannei, konfessionelle Spaltung und unsere Geschichte der Gewalt betrifft. Ob das gelingt, hängt von der Resilienz der Menschen ab und ihrer Bereitschaft, Widerstand gegen mögliche neue autokratische Mächte zu leisten.
Derzeit agiert die neue Regierung widersprüchlich. Sie will die Lage beruhigen, Vertrauen schaffen und gewaltsame Übergriffe eindämmen. Andererseits aber weckt ihr Machtanspruch Misstrauen, entfremdet Teile der Bevölkerung und verschärft die gesellschaftliche Polarisierung. Schon im März flohen mindestens 13.000 Alawitinnen und Alawiten in den Libanon, weil sie um ihr Leben fürchten mussten. Auch in Europa steigt die Zahl ihrer Asylanträge. Seit dem Sturz Assads sind nur einige Hunderttausend der mehr als sieben Millionen syrischen Geflüchteten zurückgekehrt.
Der syrische Neuanfang ist prekär. Abgesehen von den erwähnten Konflikten gibt es ganze Bevölkerungsgruppen und Landesteile, die noch außerhalb der neuen politischen Ordnung stehen. Vieles hängt davon ab, wie sich drei maßgebliche politische Kräfte verhalten und interagieren: die neue Regierung, die Zivilgesellschaft und die Organisationen der diversen ethnisch-religiösen Gruppen.
Ich werde oft gefragt, ob ich optimistisch oder pessimistisch sei. Meine Antwort ist: Ich bin interaktiv. Die Interaktion scheint mir weniger selbstbezogen als der Pessimismus und weniger naiv als der Optimismus. Wählt man sie als Leitmotiv, bleibt man offen, ohne sich ein abschließendes Urteil anzumaßen.
Ich interagiere mit dem, was in meinem Land passiert. Es freut mich, wenn sich die Lage bessert, selbst wenn es meine politischen Gegner sind, die es bewirken. Alles andere wäre egoistisch und verantwortungslos. Aber die Herrschenden müssen immer dem Druck der Kritik ausgesetzt sein, wir dürfen ihnen nie vertrauen!
Dieser Text erscheint auch in unserer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
Übertragung aus dem arabischen Original mit Hilfe künstlicher Intelligenz, bearbeitet von Ruben Donsbach.
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