"Überall sehe ich Weiß"
Rilkes Briefe zum Ausgangspunkt einer Sammlung zu machen, die sich vornehmlich an ein marokkanisches Publikum richtet, vermag zunächst jeden zu überraschen, der um die bemerkenswerten Kenntnisse jener Marokkaner, denen Bildung vergönnt ist, nicht weiß: In der Regel aber haben die gebildeten marokkanischen Schichten einen weitaus höheren Wissensstand bezüglich mitteleuropäischer Kultur und Literatur, als dies in umgekehrter Richtung der Fall ist. Die lesende Jugend jedenfalls ist mit dem Namen Rilkes – als einem der wichtigen deutschen Dichter – durchaus vertraut.
Rilkes Briefe sind das Dokument einer gesellschaftlichen und kulturellen Krisenzeit; sie ermutigen innerhalb dieser Krisenzeit zu einem beharrlichen, von Authentizität und Selbstreflexion geprägten Tun. Genau dies ist auch der Ansatzpunkt von Abdellah Taïas Sammlung, der eine große marokkanische, aber auch eine große mitteleuropäische Leserschaft zu wünschen ist.
Ermutigung zu verantwortlichem Handeln
Bemerkenswert erscheint dabei vor allem das beachtliche inhaltliche Spektrum der literarischen Stimmen, das auf eindrucksvolle Weise vor Augen führt, wie vielfältig und wie differenziert heute, gerade im Kontext der fortschreitenden Veränderungen in der arabischen Welt, von marokkanischen Intellektuellen gedacht wird. Bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit verbindet die Texte dieses Buches durchgängig der Ton einer Ermutigung zu verantwortlichem, von Aufrichtigkeit und Beharrlichkeit gespeistem Tun.
Dass die Sammlung dabei auch immer wieder gesellschaftliche Tabuthemen berührt – Homosexualität, Korruption, Apathie, blinde Traditionsverhaftung – liegt auf der Hand, aber die Autorinnen und Autoren betreiben den Tabubruch nie um seiner selbst willen.
Schon der fulminante Auftaktbrief von Tahar Ben Jelloun erschöpft sich weder in Anklage noch in moralischem Appell, sondern ist im Wesentlichen ein eindringlicher Zuruf, auf der Basis einer äußerst vielgestaltigen und reichen Kultur, wie sie die marokkanische Welt auszeichnet, das Eigene – im Bewusstsein dieser Tradition, aber vor allem auch mit Mut, Phantasie und Authentizität – anzugehen.
Was vielen Beiträgen gemeinsam ist, das ist der Appell, angesichts gesellschaftlicher Desiderate und in Anbetracht der eigenen Zukunftsaussichten nicht in Agonie und Frustration zu versinken. "Versuche, etwas zu machen, anstatt etwas machen zu wollen", ruft etwa Hicham Tahir seinen Lesern zu, und Rachida Lamrabet fordert dazu auf, "die eigene Idee" zu finden, die im Leben trägt und eine Zukunft ermöglicht, anstatt in Passivität zu verharren.
Dass diese Appelle gelingen, verdankt sich nicht zuletzt ihrer Vielgestaltigkeit. Neben offenkundig fiktionalen, aber dennoch äußert wirklichkeitsnahen Briefen finden sich solche, die an einen realen Adressaten gerichtet sind; neben eher essayistisch ausgerichteten Arbeiten stehen erzählende Texte, wie der Abdelhak Serhanes, der von der wenig ersprießlichen Traumvision erzählt, gezwungenermaßen zum Angehörigen eines anonymen Machtapparates zu mutieren.
Keine eindimensionale Sicht
Inhaltlich hat Taïa zweifellos vermieden, dem Band eine eindimensionale ideologische Tendenz zu geben. So stehen jene Stimmen, die eine entschiedene Säkularisierung vertreten, im Bewusstsein, damit auch viele religiöse Traditionen in Frage zu stellen, neben solchen Stimmen, die nachhaltig das fruchtbare Potenzial dieser Traditionen für eine Gesellschaft des 21. Jahrhunderts betonen. Und das ist gut so. Es ist gut, weil es der Vielgestaltigkeit marokkanischer Mentalitäten am Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht.Indem der Band diese unterschiedlichen Positionen zusammenbringt, ohne vorschnell vermitteln zu wollen, liefert er das Material für einen gesellschaftlichen Diskurs, der weniger übereilt Antworten auf die drängenden Fragen zu finden versucht, als dies an vielen anderen Stellen der arabischen Welt der Fall ist.
In einem der umfangreichsten Beiträge widmet sich der Islamwissenschaftler Rachid Benzine einer zeitgemäßen Koran-Lektüre. Seine auch für ein junges Publikum äußerst verständliche Einführung in die Koran-Hermeneutik ist ein Glanzpunkt der Anthologie und auch für westliche Leser außerordentlich erkenntnisstiftend.
Neben solchen Briefen, die – ungeachtet ihrer Verständlichkeit – vornehmlich ein intellektuelleres Publikum ansprechen, nimmt der Band aber auch immer wieder auf einfühlsame Weise jene Menschen in den Blick, die gesellschaftlich unterprivilegiert sind oder die am Rande der Gesellschaft stehen.
"Lausche dem Durcheinander des Lebens"
Einer der eindrucksvollsten Beiträge im vorliegenden Band stammt von Sanaa Elaji. Mit großer Leidenschaftlichkeit fordert sie ihre Leserinnen und Leser auf, nicht in Selbstmitleid und Schuldzuweisung zu versinken, sondern "die eigene Wahrheit" zu finden: "Ich bin nicht der Ansicht, dass in diesem Land die schwärzeste Finsternis herrscht. Überall sehe ich weiß, aber ebenso viele schwarze Flecken nehme ich wahr. […] Nimm aktiv teil an der Veränderung dieses Landes, von der du träumst, und verlasse dich nicht völlig auf die Entscheidungsträger. So gut ihre Absichten sein mögen, du kannst doch nie sicher sein, dass deine Träume durch ihre Vermittlung wahr werden können."
Mit Verve und in poetischer Sprache ermutigt Sanaa Elaji: "Lausche dem Durcheinander des Lebens rund um dich", um schließlich den eigenen Weg zu finden.
Dass mit Sanaa Elajis Brief nur ein einziger Beitrag aus dem weiten Spektrum der arabischsprachigen Literatur Marokkos aufgenommen wurde, ist ein Manko des Bandes, das bei dessen Erscheinen in Marokko ebenso moniert wurde wie die Tatsache, dass der Anteil der heute im Ausland lebenden Beiträger so hoch ist.
Tatsächlich wäre es wünschenswert gewesen, die arabischen Stimmen des Landes wesentlich intensiver zu berücksichtigen und zudem auch wichtige Autoren wie etwa Yassin Adnan, Mahi Binebine, Mohammed Bennis und Hassan Najmi mit einzubeziehen. Dies hätte den Band gewiss nicht nur um einige zusätzliche Stimmen erweitert, sondern sicherlich auch zu seiner nachhaltigen Wirkung Wesentliches beitragen können.
So bleibt festzuhalten, dass die "Briefe an einen jungen Marokkaner" ein äußerst innovatives Projekt darstellen, das in der Lage ist, den kulturellen Diskurs in Marokko zu befördern und das zugleich dem westlichen Leser einen bemerkenswerten Eindruck von der Vielfältigkeit marokkanischen Denkens vermittelt, das aber auch der Fortsetzung bedarf – etwa durch jene literarischen Stimmen, die bislang noch keine Berücksichtigung fanden.
Christoph Leisten
© Qantara.de 2014
Abdellah Taïa (Hg.): "Briefe an einen jungen Marokkaner", kürzlich erschien das Werk in deutschsprachiger Übersetzung vom "Übersetzerkollektiv des Zentrums für Translationswissenschaft der Universität Wien" im Passagen-Verlag.
Der Schriftsteller Christoph Leisten kennt Marokko als Reisender seit über 30 Jahren. Sein Prosaband "Marrakesch, Djemaa el Fna" (Rimbaud-Verlag) erschien 2009 in arabischer Übersetzung. – Im Herbst 2014 erscheint sein Band "Argana. Notizen aus Marokko".
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de