Der scharfe Geschmack der Ungerechtigkeit
Die Avatare der arabischen Diktatoren und ihrer Systeme sind noch an Ort und Stelle, sie sitzen in den Verwaltungen und in den erschrockenen Herzen der Menschen – so schrieb der marokkanische Schriftsteller Abdellah Taia im September 2011 im Freitag anlässlich der arabischen Revolution.
Taia, 1973 in Rabat geboren, hatte auf seine Weise einige Jahre zuvor schon selbst gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Mechanismen in seiner Heimat revoltiert: 2006 bekannte er sich in einem Interview mit dem marokkanischen Politmagazin Tel Quel als erster Schriftsteller seines Landes offen zu seiner Homosexualität.
Damit brach er ein Tabu – und einen Sturm der Entrüstung und Anfeindungen los. Denn auch wenn sich die marokkanische Gesellschaft vor allem unter dem gegenwärtigen König Mohammad VI. in Teilen geöffnet hat, so ist sie in ihrem innersten Kern doch zutiefst konservativ geblieben – allemal, was das Verhältnis der Geschlechter anbelangt.
Die Schatten der Vergangenheit
Diesen (auch politisch) verknöcherten Strukturen hielt Taia in all seinen bisherigen Büchern den Spiegel vor – indem er in die 1980er und 1990er Jahre zurückkehrte und somit Ursachenforschung betrieb.
Auch sein jüngster Roman "Der Tag des Königs" – 2010 ist er bei Seuil in Paris erschienen, wo Taia seit 1999 lebt – nimmt einen mit in diese Zeit. Es sind die sogenannten bleiernen, ja schwarzen Jahre Marokkos: Unter dem damaligen Regenten Hassan II. – dem Vater des derzeitigen Königs und Machthabers – werden missliebige Gegner und Oppositionelle scharenweise eingesperrt, gefoltert und getötet.
Der Roman selbst spielt im Jahr 1987, wir sind in einem kleinen Ort zwischen Rabat und Salé. Es ist Juni, ein Donnerstag – und es ist der Tag des Königs. Hassan II. wird an diesem Tag die Straße passieren, um sich von seinen Untertanen feiern zu lassen. Inmitten der wartenden Menge befinden sich auch zwei Jungen, die nicht unterschiedlicher sein könnten und dennoch beste Freunde sind: Omar, der aus der ärmlichen Vorstadt stammende 14-jährige Ich-Erzähler, und Khalid, ein Sohn aus reichem Hause, begünstigt durch seine Herkunft und seine Klasse.
Tor zur Freiheit
Für Omar – der sich um seinen Vater kümmern muss, da die Frau ihn verlassen hat – bildet Khalid das imaginäre Tor zu einer kurzfristigen Freiheit, die ihm in Wahrheit von Grund auf verwehrt ist. Für Khalid scheint Omar ein exotisches Wesen aus einer ihm unbekannten Welt zu sein, das dankbar all die dunklen Visionen teilt, die der von der Sonne des Lebens so verwöhnte wie gelangweilte Khalid seinem ungleichen Freund erzählt.
Nur eins hat Khalid seinem besten Freund nicht erzählt: dass er als bester Schüler seiner Klasse auserwählt worden ist, um dem König an diesem Tag die Hand zu küssen. Das hat Omar erst am Tag zuvor erfahren, vor versammelter Klasse, aus dem Mund des Direktors. Dabei hatte Omar Khalid nur kurze Zeit zuvor von seinem eigenen bösen Traum erzählt: Er, Omar musste dem König gegenüber treten – und hat kläglich versagt.
Die grundlegenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, allem voran die unüberbrückbare Kluft zwischen Arm und Reich, ist somit die alles entscheidende Konstante, die Taia diesem Verhältnis eingeschrieben hat. Von Anfang an weiß der Leser um die Verteilung der Rollen, von Anfang an herrscht die beängstigende Mechanik einer griechischen Tragödie, in der das Schicksal unausweichlich seinen Lauf nehmen wird.
Doch der Tag des Königs ist in diesem hoch formalisierten Roman auch der Tag, an dem Omar – das vermeintliche Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse – tödliche Rache nehmen wird für den Verrat, den Khalid, das Kind der Reichen und Mächtigen, an ihm begangen hat.
Vom Freund zum Feind
Zugleich kleidet Taia seine Geschichte immer mehr in die aufgeladene, fast märchenhafte Motivik von sprechenden, zugleich aber auch traumähnlichen Bildern: Erst lockt Omar seinen Freund in den Wald – wo sie, der sozialen Unterschiede beraubt, wie zum Spiel in die Haut des Anderen schlüpfen. Als sie in die Stadt zurückkehren, stürzt Omar seinen Freund von der Brücke, die das Land von der Stadt, sprich: das moderne vom archaischen, das reiche vom armen Marokko trennt.
Der Freund ist zum Feind geworden – das Opfer aber hat sich in den Henker verwandelt. An den Verhältnissen wird dies jedoch nichts ändern solange Herkunft, Klasse, Hautfarbe über den Wert des Menschen bestimmen, das macht Taia klar. Im Roman spiegelt Taia die Missachtung, die den Entrechteten per se entgegenschlägt, in weiteren Figuren: Da ist Hadda, das schwarze Hausmädchen in Khalids Villa. Schon die Hautfarbe ist Grund genug, sie zu diskriminieren. Khalids Vater nimmt sie zur Geliebten – bis er ihrer überdrüssig ist, und man sie entlässt.
Messerscharfe Symbolik
Auch Omars Mutter hat dunkle, sehr dunkle Haut – zudem ist sie eine Prostituierte. Zum eigenen Vergnügen ist sie gut genug – als Ehefrau und Mutter achten kann ihr Mann sie nicht. Schließlich betrügt sie ihn im eigenen Haus. Als sie ihren Mann verlässt, wird dieser zum Kind, um das sich der eigene Sohn kümmern muss. Sprich: Diese Welt, das zeigt Taias kunstvolle und zugleich doch messerscharfe Symbolik, ist aus den Fugen – und geht doch unbeirrt seinen Gang. Alles verströmt den scharfen Geschmack von Ungerechtigkeit, doch Veränderung ist nicht erlaubt. Wo aber Veränderung nicht erlaubt ist, kommt es, wie im Falle Omars, zur Implosion.
Die Marokkaner haben lange genug weggeschaut, so führt Taia in seinem Artikel im Freitag weiter aus. Nun endlich würden sie in sich hineinblicken, in ihre Vergangenheit, ihre Geschichte, ihr Geschlecht, um sich zu fragen: Wer sind wir? Wie kamen wir an den Punkt, an dem wir jetzt sind?
"Der Tag des Königs" ist insofern ein politischer Roman, obwohl er dem Schmerz und der Wut und der Hoffnung einer viel zu lange von sich selbst entfremdeten, da all zu lange vom Recht auf Würde und Freiheit des Einzelnen beraubten Nation in einer so poetischen wie fast schwebenden Sprache Ausdruck verleiht.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2012
Abdellah Taia: "Der Tag des Königs", Aus dem Französischen von Andreas Riehle, Roman Suhrkamp Verlag 2012, 179 Seiten.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de