Psychologie großer Kollektive

Seit seinem Essay "Mörderische Identitäten" gilt der libanesisch-französische Schriftsteller und Journalist Amin Maalouf als einer der engagiertesten Vermittler zwischen Orient und Okzident. Kersten Knipp stellt Maaloufs neuen Essayband "Die Auflösung der Weltordnungen" vor.

Amin Maalouf; Foto: Wikipedia
Amin Maalouf, 1949 im Libanon geboren und seit Jahrzehnten in Frankreich lebend, schreibt in seinem neuen Buch, dass sich Orient und Okzident wieder einander öffnen müssen.

​​ In seinem Essay "Die Auflösung der Weltordnungen" spannt Amin Maalouf einen großen analytischen Bogen. In einem Überblick über die Begegnungen zwischen Orient und Okzident legt der libanesisch-französische Intellektuelle ein Muster frei, in das sich die Geschichten von Erfolg und Misserfolg, von Stolz und Scham nahtlos einfügen.

Dabei zeigt sich vor allem eines: Die Rollen sind seit ewigen Zeiten dieselben. Auf der Seite der Sieger steht seit Jahrhunderten der Westen, während die arabische Welt Niederlage um Niederlage verzeichnet.

Worum immer es gehen mag: um wissenschaftliche Revolutionen, militärischen Triumph, kulturelle Leistungen, denen die Welt etwas verdankt: Die Araber müssen weit zurückschauen, um auf große Leistungen verweisen zu können.

Seit Jahrhunderten, schreibt Maalouf, haben sie nichts Großes mehr hervorgebracht, und was das Schlimmste ist: Wenig bis nichts spricht dafür, dass es ihnen in absehbarer Zeit gelingen wird.

Die Anziehungskraft von Macht und Erfolg

Damit verhält es sich in der Region ganz anders als etwa in Indien und China, zwei Länder, die man in wenigen Jahren zu den globalen Großmächten zählen wird – wenn sie es nicht schon sind.

Beide Länder, schreibt Maalouf, verzeichneten in den letzten Jahren auch ein gestiegenes internationales Interesse an ihrer Kultur. Weltweit studierten die Menschen die chinesischen und indischen Sprachen und Traditionen. Ebenso studierten sie die Geschichte der beiden Länder, informierten sich über ihre Religion, teilweise übernähmen sie zu Teilen sogar.

Gerade die Adaption der Religionen mag man als Modephänomen bezeichnen. Aber widerlegt ist der dahinter stehende Prozess darum noch nicht: Indien und China erschienen vielen Menschen darum so attraktiv, schreibt Maalouf, weil sie beide eine ungeheure Erfolgsgeschichte verzeichnet hätten.

Beide Staaten hätten vor einem Vierteljahrhundert noch einen angestammten Platz im Armenhaus der Welt gehabt – nun zählten sie zu den globalen Big Playern.

Ganz anders hingegen sähe es für die arabische Welt aus: über die Religion, den Islam, machten die Menschen sich entweder lustig oder fürchteten sich vor ihr; die Sprache, das Arabische, erscheine den meisten Menschen wenig attraktiv; und die arabischen Schriften, Traditionen und Literaturen kenne außerhalb der Region kaum jemand.

Der Niedergang säkularer Ideologien

Ausgiebig rekapituliert Maalouf die Vorgeschichte, die zu dieser kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Geringschätzung geführt hat:

​​ Mit dem Niedergang des arabisch-islamischen Reiches begann der Siegszug der Osmanen, dann fielen die europäischen Kolonialmächte in der Region ein, und schließlich dann die Staatsgründung Israels und die in den folgenden Jahren gegen den jüdischen Staat begonnenen und allesamt verlorenen Kriege, die in der Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 kulminierten.

Diese Demütigungen, resümiert Maalouf, hätten auch die säkularen Leitbilder ruiniert: Nationalismus, Panarabismus, Kommunismus und Sozialismus: Allesamt nahmen sie sich klein aus gegen die sich ausbreitende Ideologie Nummer eins: den Islamismus.

Aber sind die Araber Mitglieder einer besonders religiösen Zivilisation? Nein, meint Maalouf, es gehe um etwas ganz anderes: darum, sich an das letzte Symbol des Eigenen, des Unverrückbaren zu halten. Nicht ein religiöses Gefühl, sondern die Suche nach genuiner Identität und Selbstbewusstsein binde die Menschen an den Islam.

Plurale religiöse Identitäten

Was aber der Islam sei, darauf kann und will Maalouf keine Antwort geben: Er selbst wisse es nicht – und vermutlich gebe es auch keine allgemein verbindliche Antwort.

In den großen religiösen Schriften stehe mal dieses, mal jenes. In dem einen Vers finde sich die eine Aussage, keine zehn Zeilen weitere finde man die genau entgegen gesetzte. Nein, durch Kohärenz überzeugten Religionen nicht, so das Verdikt von Maalouf.

Israelische Soldaten an der Westmauer in Jerusalem kurz nach der Einnahme Jerusalems im Sechstagekrieg 1967; Foto: Wikipedia
Die Demütigung der arabischen Welt im Sechstagekrieg von 1967 ruinierte auch die damals im Orient verbreiteten säkularen Leitbilder: Nationalismus, Panarabismus, Kommunismus und Sozialismus mussten der neuen, unbelasteten Ideologie des Islamismus weichen.

​​ Maalouf, 1949 im Libanon geboren und seit Jahrzehnten in Frankreich lebend, kennt beide Regionen: die arabische Welt ebenso wie die westliche. So ist er auch einigen Gepflogenheiten des Westens gegenüber skeptisch.

Es gehe nicht an, unbefangen an die Unverrückbarkeit der Religionen oder deren unabänderliche Prägekraft zu glauben. Religionen und Kulturen seien keine starren Gebilde.

Dennoch würden die in die westlichen Länder ziehenden Migranten immer noch überwiegend nach ihrer Herkunft identifiziert und auf diese festgeschrieben. Dynamische, wandelbare, sich entwickelnde Identitäten – das könne man sich im Westen immer weniger vorstellen. Und genau darin folge der Westen einer globalen Tendenz, die dazu neige, kulturelle Unterschiede als kulturelle Grenzen zu sehen – und zwar als kaum überwindbare Grenzen.

Das liege auch an der spezifischen Qualität der westlichen Staaten: Sie seien Nationalstaaten, die eine rigide, eindimensionale Vorstellung von Identität hervorgebracht hätten. Von den großen Traditionen kulturübergreifender Reiche – das Alexanderreich, Rom, das Osmanen- und das Habsburgerreich: von deren Traditionen sei nicht mehr viel übrig geblieben. So recht könne man sich darum eine mehreren Kulturen verpflichtete Person nicht vorstellen.

Fremdsprachen als Schlüssel zum Kulturdialog

Im Hinblick auf eine positive Entwicklung ist Maalouf skeptisch. Zwar merkten beide Regionen jetzt, wie dringend es sei, einander weniger dogmatisch zu betrachten, und die Wahrnehmung nicht nur auf religiöse und kulturelle, sondern auch politische und ökonomische Faktoren zu gründen. Aber einfach sei das nicht, zu fest seien die etablierten Wahrnehmungsmuster.

Maalouf ist selbst in drei Sprachen, dem Arabischen, dem Englischen und dem Französischen, zu Hause. Und so wenig er den Religionen abgewinnen kann, so sehr schwärmt er von den Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation.

Jeder Mensch müsse mehrsprachig sein, neben dem Englischen mindestens eine weitere Fremdsprache beherrschen. Denn Sprachen sind der Schlüssel, so Maalouf, sie öffnen den Weg zur Begegnung mit fremden Kulturen.

Natürlich sind solche Begegnungen nicht ohne Anstrengung und Konflikte zu haben. Aber welches tiefere Vergnügen wäre umsonst zuhaben? Die Welt wächst zusammen. Darüber wird sie unendlich gefährlich. Es sei darum Zeit, schreibt Maalouf, dass Orient und Okzident einander auf neue Art wahrnehmen, sich mehr füreinander interessierten.

Das, schreibt Maalouf weiter, sei nicht nur politisch von Bedeutung. Zugleich könne es beide Regionen auch kulturell unendlich bereichern.

Kersten Knipp

© Qantara.de 2010

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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