Wegen Twitter-Witz am Pranger
"Ist das Paradies etwa ein Bordell?" hatte Fazil Say ohne größere Hintergedanken auf sein Twitter-Profil geschrieben. Dabei waren es noch nicht einmal seine eigenen Worte gewesen, die Say veröffentlichte.
Der bekannte türkische Pianist hatte Anfang April zwei Sätze, die dem mittelalterlichen persischen Dichter Omar Khayyam zugeschrieben werden, getwittert: "Du behauptest, durch die Bäche wird Wein fließen - ist das Paradies etwa eine Schänke? Du sagst, jeder Gläubige wird zwei Jungfrauen bekommen - ist das Paradies etwa ein Bordell?"
Wahrscheinlich hatte er sich noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen vorstellen können, welche Reaktion er damit auslösen würde. Muslimische Türken beschimpften den bekennenden Atheisten Say im Netz auf das Schlimmste.
Der Pianist behielt die Ruhe und konterte mit sarkastischem Humor: "Der Muezzin trägt seinen Aufruf zum Abendgebet in 22 Sekunden vor. Prestissimo con fuoco!! Warum so eilig? Eine Geliebte? Der Raki-Tisch?"
Wegen Volksverhetzung angeklagt
Mit seinen Äußerungen rief Say die türkischen Behörden auf den Plan und geriet gar ins Visier der Istanbuler Staatsanwaltschaft. Say habe zum Hass aufgestachelt und religiöse Werte verunglimpft, heißt es in der Anklageschrift. Der Staatsanwalt behauptet sogar Says Tweets könnten "zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führen".
Say ist für die türkischen Behörden kein Unbekannter. Mehrmals hatte er in den vergangenen Jahren mit scharfer Kritik an der türkischen Regierung von sich reden gemacht.
Wegen der Politik der islamisch geprägten Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte er mehrfach öffentlich über Pläne gesprochen, aus seiner Heimat auszuwandern. In einem Interview mit der türkischen Zeitung "Hürriyet" vom 23. April 2012 kündigte er seine Auswanderung nach Japan an.
Der 42-Jährige beklagte eine zunehmende kulturelle Intoleranz in seiner Heimat. "Als ich sagte, dass ich Atheist bin, haben mich alle beleidigt", erzählte Say. Die Behörden seien "allem hinterher gejagt, was ich auf Twitter geschrieben habe".
Say hatte in dem Interview erklärt, er fühle sich von der türkischen Gesellschaft völlig ausgegrenzt. Die an ihn gerichtete Kritik zeuge von einem zunehmenden Klima der Intoleranz in der Türkei. Unter seinen Kritikern war unter anderem ein Abgeordneter der Regierungspartei AKP, der Say einen "Hurensohn" nannte.
Will man nur einen lästigen Kritiker loswerden?
Sollte Say durch seine Tweets tatsächlich die öffentliche Ordnung in Gefahr bringen, stellt sich die Frage, warum nur Fazil Say angeklagt wird: Schließlich war er nur einer von 166 Twitterern, die das Khayyam-Zitat im Netz verbreitet hatten.
Dass allein ihm der Prozess gemacht wird, verdeutlicht, dass es die Justiz auf einen ihrer lästigsten Kritiker abgesehen hat. Als der Musiker 2007 Überlegungen äußerte, das Land zu verlassen, weil ja "die Islamisten ohnehin gewonnen haben", rief das schon große Empörung hervor. Say wurde als Landesverräter beschimpft.
Die Reaktionen auf seine Tweets verraten viel über die Türkei. Ein Land, das seit dem Staatsgründer Atatürk stolz darauf ist, Kirche und Staat strikt zu trennen. Die derzeitige Regierungspartei AKP hat aber islamische Wurzeln.
Und so ist es kaum verwunderlich, dass sich in letzter Zeit die Verurteilungen von türkischen Künstlern durch die Regierung häufen. So wurde der Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk 2006 zu einer Schadensersatzzahlung verurteilt, nachdem er sich kritisch zum Völkermord an den Armeniern geäußert hatte.
Im gleichen Jahr wurde auch die Schriftstellerin Elif Shafak angeklagt, weil sie in ihrem Buch "Der Bastard von Istanbul" ebenfalls den Völkermord thematisiert hatte. Ähnlich wie Fazil Say ist zuletzt 2009 der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel aufgrund angeblicher islamfeindlicher Äußerungen in Konflikt mit dem Gesetz gekommen. Der Autor des Romans "Allahs Töchter" wurde in seiner Heimat wegen Blasphemie verklagt.
Internationaler Künstler
Say ist ein internationaler Starpianist und in der Vergangenheit bereits mit den Philharmonikern von Berlin, New York, Tokio und Israel sowie dem französischen Nationalorchester aufgetreten. Er hatte 1994 beim europäischen Nachwuchswettbewerb für Musiker, den Young Concert Artists International Auditions, den ersten Preis gewonnen und damit den Durchbruch geschafft.
Nach Angaben von Says Anwältin Meltem Akyol können Beleidigungen gegen religiöse Werte in der Türkei mit Haftstrafen geahndet werden. Die Anwältin hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Die türkische Nachrichtenagentur Dogan berichtete am 04. Juni 2012, der Musiker habe erklärt, er habe niemanden beleidigen wollen. Meinungsfreiheit sei ein Recht für alle, so der Künstler.
Der Prozess gegen Say soll am 18. Oktober beginnen. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 18 Monate Haft. Fans und Freunde des Musikers haben eine Kampagne zu seiner Unterstützung organisiert, der sich bis zum 8. Juni 2012 über 5000 Menschen angeschlossen hatten. Der 42-Jährige erklärte, sollte er hinter Gitter kommen, wäre seine Karriere am Ende.
Arne Lichtenberg
© Deutsche Welle 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de