Vom Doppelspiel der russischen Diplomatie
Bereits seit einiger Zeit versucht Russland, wieder mehr Einfluss in Nordafrika zu gewinnen. Zu diesem Zweck verstärkt das Land seine Zusammenarbeit mit fast allen Ländern in der Region – und dies in vielen Bereichen.
Nach dem Bürgerkrieg von 2011 waren die gewachsenen russischen Politik- und Handelsbeziehungen mit Libyen völlig zusammengebrochen. So gut wie alle vorher unterzeichneten Verträge im Energie-, Infrastruktur- und Gesundheitssektor wurden für ungültig erklärt. Darüber hinaus verlor Russland im Zuge des UN-Waffenembargos Rüstungsverträge im Wert von vier Milliarden Dollar.
Nach den Aufständen gegen das Gaddafi-Regime von 2011 versank Libyen in völligem Chaos – mit lang anhaltenden Folgen. Russland macht für die Zustände, unter denen das Land bis heute leidet, hauptsächlich die damalige NATO-Intervention des Westens verantwortlich.
Heute kämpfen in Libyen zwei große rivalisierende Blöcke um die Macht. Dies hat nicht nur das Land gespalten, sondern auch zu neuen Stammesfehden und islamistischen Aufständen geführt. Große Teile Ostlibyens werden heute vom libyschen Nationalkongress in Tobruk kontrolliert. Dieser wiederum wird von Khalifa Haftar unterstützt, dem Anführer der "Libyschen Nationalarmee". Nachdem Haftar einige militärische Erfolge im Kampf gegen radikale Islamisten verbuchen konnte, gewann er zunehmend an Beliebtheit und Ansehen.
Während Russland, das zwar immer noch mit beiden Konfliktparteien in Kontakt steht, viel engere Verbindungen zu Haftar hat unterstützen die westlichen Staaten und die Vereinten Nationen hingegen die "Regierung der Nationalen Einheit" unter Fayez Sarraj.
Spekulationsblasen der "Yellow Press"
In letzter Zeit gab es viele Gerüchte und Spekulationen über diverse Pläne Russlands, in Libyen mehr Einfluss zu gewinnen und dafür auch das Militär einzusetzen. So berichtete etwa die britische Boulevardzeitung "The Sun", Russland habe "unter dem Deckmantel des privaten und umstrittenen russischen Militärkonzerns Wagner Group" in Bengasi und Tobruk militärische Stützpunkte eingerichtet. In dem Artikel wurde behauptet, Russland habe Spezialeinheiten (Spetsnaz) und Raketen dorthin verlegt sowie Waffen bereitgestellt, um Feldmarschall Khalifa Haftar, den Anführer der "Libyschen Nationalarmee" im Osten, bei der Übernahme des Landes zu unterstützen.
Aber entspricht das auch der Wahrheit? Schließlich ist "The Sun" kein Nachrichtenmedium, das für seine qualitativ hochwertigen und tiefgründigen geopolitischen Analysen bekannt wäre. Daher rät Tim Eaton, ein Forschungsmitarbeiter beim MENA-Programm des Chatham House, den Artikel aus "The Sun" mit Vorsicht zu genießen: "Der Tiefgang und Schreibstil des Artikels legt nahe, dass er nicht von der Zeitung selbst geschrieben, sondern dort lanciert wurde. Ich habe Andeutungen gehört, dafür seien Geheimdienste verantwortlich."
Wayne White, ein politischer Experte beim Middle East Policy Council in Washington, argumentiert, Libyen sei zu unsicher, als dass Putin dort über einen großen Militärstützpunkt nachdenken würde. Falls der russische Staatschef dort umfangreiche militärische Operationen plane, würde er damit sicherlich eine der beiden großen rivalisierenden Regierungen Libyens provozieren.
Bereits jetzt unterstützt Russland den "Libyschen Nationalkongress" im Osten mit Personal und Geld. Über Ägypten wurden auch bereits Waffen geliefert. Damit riskiert das Land schon heute, die "Regierung der Nationalen Einheit" in Tripolis gegen sich aufzubringen – obwohl die Russen sehr darauf achten, mit Ministerpräsident Sarraj auf höchster Ebene in Kontakt zu bleiben.
Libyen als Teil eines russischen Gesamtkonzepts?
Laut anderen Medienberichten wird auch davon ausgegangen, die Kontrolle über Libyen sei Teil eines größeren russischen Gesamtkonzepts – nämlich die Hauptroute für illegale Einwanderer nach Europa unter Kontrolle zu bekommen, was Russland in Hinblick auf Europa angeblich als Druckmittel einsetzen wolle.
White ist allerdings nicht der Meinung, Moskau ziele darauf ab, die libysche Küste und damit die Einwanderungsrouten nach Europa zu kontrollieren. Das beste, was sich Russland erhoffen kann – und wohl tatsächlich erhofft – ist ein kooperatives libysches Regime, das mächtig genug ist, dies selbst tun zu können.
Und Libyen-Experte Tim Eaton glaubt, Libyen sei in Hinblick auf Einmischung von außen sehr misstrauisch. Daher sei es auch kaum vorstellbar, dass Ministerpräsident Sarraj oder Feldmarschall Haftar dem Aufbau eines russischen Marinestützpunkts zustimmen würden – selbst wenn die Russen dies vorhätten. Im Gegenteil, gegenwärtig ist es General Haftar, dersich damit brüstet, dank seiner Macht die ungeregelte Migration nach Europa unter Kontrolle zu bringen. Wer auch immer dazu effektiv in der Lage sein will, muss nicht nur See- sondern auch Landwege kontrollieren.
Abgesehen davon, dass die Russen ihren verlorenen Einfluss in Nordafrika wieder herstellen wollen, dient die russische Einmischung laut White allein Informationszwecken. Allerdings hält Moskau es auch für wichtig, militant-islamistische Elemente zu unterdrücken, und sich, sofern es Khalifa Haftar hilft, bei Ägyptens Diktator Sisi Lieb Kind zu machen, der ja gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten zu den größten Unterstützern Haftars zählt.
Offen für alle Konfliktparteien
Doch das Doppelspiel der russischen Diplomatie und des russischen Militärs in Libyen wirft viele Fragen auf. Einige Beobachter erwähnen sogar die Möglichkeit, rivalisierende russische Staatsorgane könnten dort verschiedene Seiten unterstützen. Wahrscheinlicher ist es allerdings, dass Russland versucht, zu allen Konfliktparteien die Kommunikationskanäle offen zu halten – unabhängig davon, wer letztlich gewinnt.
Dies spiegelt die unterschiedlichen russischen Interessen in Libyen wider und deutet laut Eaton darauf hin, dass die russischen Akteure auch weiterhin relativ opportunistisch vorgehen. Sie wollen mit möglichst geringem Aufwand die Chancen nutzen, die ihnen am meisten Vorteile bieten. Dass Russland beabsichtigt, sich stark genug zu engagieren, um als internationaler Vermittler für eine politische Einigung in Libyen dienen zu können, ist allerdings unwahrscheinlich.
Und ebenso wie andere Akteure, die versucht haben, in Libyen Fuß zu fassen, könnte auch Russland den vielen militanten Strömungen und rivalisierenden Parteien dort unterliegen. In diesem Fall könnte das Land dort nicht nur Soldaten verlieren, sondern müsste auch eventuelle Pläne aufgeben, sich in Libyen nennenswert etablieren zu können.
Stasa Salacanin
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff