Zurück im Land des Völkermords

Eine Frau sitzt in der Tür eines verfallenen Gebäudes und blickt auf die Straße hinaus.
Nordwest-Irak war ab 2014 Hauptschauplatz der Verfolgung von Jesid:innen. 2023 erkannte der Bundestag die IS-Verbrechen als Völkermord an (Foto: Picture Alliance/Anadolu | Stringer)

Tausende Angehörige der jesidischen Minderheit im Irak sind vor dem IS nach Deutschland geflohen. Nun erhalten viele von ihnen Abschiebebescheide, einige sind bereits zurück. In der Heimat droht weitere Gewalt.

Von Hannah Wallace

Unbefestigte Straßen, von Schutt gesäumt: So beschreibt Sandra Qasim den Blick aus dem Fenster eines Hauses im Nordirak, wo die 18-jährige derzeit mit ihrer Familie wohnt. Ein paar Häuser weiter sind vertriebene Familien vorübergehend im lokalen Schulhaus untergekommen.

Vor vier Monaten noch machte Sandra eine Ausbildung zur Krankenpflegerin im brandenburgischen Lychen und freute sich auf ihre berufliche Zukunft. Doch nachdem sie mit ihrer Familie in den Irak abgeschoben worden ist, hat sie alle Hoffnung verloren. 

Die sechsköpfige Qasim-Familie sind Jesid:innen, eine kurdischsprachige religiöse Minderheit. Im August und September 2014 erlebte diese Gemeinschaft einen Genozid durch den „Islamischen Staat im Nordirak und Nordosten Syriens“ (ISIS). Einige europäische Staaten nahmen daraufhin zehntausende Jesid:innen auf und boten ihnen Schutz. 

Doch der politische Rechtsruck in Deutschland in den letzten Jahren hat Fremdenfeindlichkeit genährt und Deutschland für die Familie Qasim zu einem immer unsicheren Land gemacht. Im Juli schließlich wurden sie abgeschoben. Bis zu 10.000 Jesid:innen sollen momentan in Gefahr sein, in den Irak abgeschoben zu werden.

Die Familie Qasim kam 2022 nach Deutschland, ein Jahr später wurde ihr Erstantrag auf Asyl vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) abgelehnt. Die Begründung: Der Antrag sei „offensichtlich unbegründet“. 

Nur wenige Tage vor der Abschiebung im Juli wurde beim Verwaltungsgericht Potsdam ein Eilantrag gestellt. Das Gericht gab dem Antrag statt und setzte die Abschiebungsanordnung aus, doch es war bereits zu spät. Das Flugzeug mit der Familie an Bord war bereits in Richtung Irak gestartet. 

Erschwerend kam hinzu, dass ein wenige Tage später vom Anwalt der Familie eingereichter Eilantrag auf ihre sofortige Rückkehr nach Deutschland abgelehnt und die ursprüngliche Bamf-Entscheidung von 2023 bestätigt wurde. 

Zurück in Sindschar hält sich die Familie nun mithilfe von Spenden von Freunden und Familie über Wasser. Sandra fürchtet, dass sie langfristig obdachlos werden könnten, da sie nicht in der Lage seien, die Miete zu bezahlen. In diesem Fall müssten sie zu den anderen Familien in das Schulgebäude ziehen. 

„Mein Leben in Deutschland war gut“, sagt Sandra. Ende 2025, so hatte sie gehofft, würde sie als Krankenpflegerin ins Berufsleben starten, „doch alle meine Träume sind zerplatzt“.

Leben in Ruinen

Die Familie versucht weiter verzweifelt, nach Deutschland zurückzukehren. Zwar hielt das letzte offizielle Gerichtsurteil in ihrem Fall fest, dass es keine ausreichenden Beweise mehr für eine ernsthafte Bedrohung der Jesid:innen im Irak gebe, doch die Realität vor Ort zeichnet ein völlig anderes Bild. 

Sandras Familie lebt in Dugure, Sindschar. 2014 wüteten IS-Kämpfer in der angestammten Heimat der Jesid:innen und versuchten, die Gemeinschaft durch Zwangsumsiedlung, Versklavung und Massenmord auszulöschen. Dabei wurden schätzungsweise 10.000 Jesid:innen getötet oder entführt.   

Heute, so Sandra, seien Teile Sindschars noch immer Geisterstädte. Trümmer und andere Zeichen der Verwüstung säumen die Straßen, Hinterlassenschaften des IS. Bewässerungskanäle, Brunnen, Krankenhäuser und Schulen wurden bei den Angriffen zerstört, wodurch die Infrastruktur der Region weitgehend unbrauchbar wurde.

Aus Mangel an sauberem Wasser haben viele in ihren Gärten Brunnen gegraben, um an Grundwasser zu gelangen. Aufgrund des hohen Salzgehalts ist es jedoch nicht als Trinkwasser geeignet. Die meisten sind deshalb auf Wassertanks angewiesen, die von Hilfsorganisationen geliefert werden. 

In Sindschar gibt es weder eine funktionierende Kanalisation noch eine kommunale Abfallentsorgung, und selbst an guten Tagen haben die Einheimischen nur fünf bis sechs Stunden lang Strom.

Eine umkämpfte Region

Die Sicherheitslage ist ebenso prekär: Bewaffnete Kämpfer:innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ziehen durch die Straßen in der Nähe des Hauses der Qasims. Die bewaffnete Gruppe, die in der Türkei gegründet wurde und in den USA und der EU als Terrororganisation gilt, hatte sich 2014 in Sindschar festgesetzt. Sie schuf damals einen sicheren Korridor für Jesid:innen, die vor den IS-Angriffen flohen. 

Die Kämpfe zwischen der PKK und ihren Verbündeten auf der einen Seite und vom Iran und der Türkei unterstützten Milizen auf der anderen Seite pausieren formal, doch die Gewalt könnte jederzeit wieder ausbrechen.

Zudem bleibt abzuwarten, ob sich die Erklärung der PKK aus dem Mai 2025, sich selbst zu entwaffnen und aufzulösen, auch auf die Kämpfer:innen in Sindschar erstreckt. Bagdad und die Regionalregierung Kurdistans kämpfen unterdessen weiter um die Kontrolle über die strategisch wichtige Region.

Anderswo im Irak verüben IS-Schläferzellen und -Sympathisanten sporadische Angriffe. Im August kursierte im irakischen Fernsehen ein Video, das offenbar zeigt, wie ein IS-Kämpfer südlich von Al-Ba'aj, etwa 50 Kilometer von den mehrheitlich jesidischen Gebieten entfernt, einen arabischen Hirten hinrichtet.   

Unter Jesid:innen löste der Vorfall Angst vor erneuten Gräueltaten aus. Viele glauben, dass die Probleme, die den Aufstieg des IS ermöglichten, noch nicht gelöst sind. Hassreden gegen Jesid:innen sind weit verbreitet und muslimischen Geistlichen wird oft vorgeworfen, in Predigten und in den sozialen Medien zu Gewalt aufzurufen. 

„Jesid:innen sind weiterhin Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt“, berichtet Sufyan Ali, ein jesidischer Aktivist aus Sindschar, gegenüber Qantara. „Unsere Gemeinschaft hat wenig Vertrauen in die Sicherheitskräfte, die derzeit hier stationiert sind. Sie haben weder die Fähigkeit noch den Willen gezeigt, echten Schutz zu bieten.“

Weitere Abschiebungsbescheide

Deutschland ist Heimat der größten jesidischen Diaspora-Gemeinde Europas. Die meisten der rund 200.000 Menschen kamen in den letzten zwölf Jahren. Seit mehr als einem Jahrzehnt unterstützt Deutschland Jesid:innen aktiv und bietet ihnen Asyl und psychologische Betreuung. 

Doch der politische Druck, die Abschiebungen zu beschleunigen, hat in diesem Jahr stark zugenommen. Auch Murad, ein 25-Jähriger, der mit seiner Frau und seinem Kind in Nordrhein-Westfalen lebt, erhielt vor einigen Wochen einen Abschiebebescheid. 

Die meisten aus Murads Familie und Freundeskreis waren bereits 2014 nach Deutschland geflohen. Er selbst blieb zunächst zurück, um sich um seine Großmutter zu kümmern. So wurde er Zeuge des Völkermords und seiner Folgen. „Ich sah, wie Menschen brutal ermordet wurden und andere bei der Flucht starben“, erinnert er sich.   

2023, nach dem Tod seiner Großmutter, verkauften Murad und seine Frau ihren Besitz, um die Reise nach Deutschland zu finanzieren. „Das Leben im Irak war unerträglich geworden“, sagt Murad, dessen Sohn 2024 in Deutschland geboren wurde. „Minderheiten können nicht mehr in Sicherheit leben – die Situation hat sich seit 2014 nur noch verschlechtert.“

Murads Frau, bei der Depressionen und Angstzustände diagnostiziert worden seien, werde in Deutschland medizinisch versorgt. Der Abschiebebescheid habe sie schwer getroffen. Etwa zur gleichen Zeit erfuhren sie und Murad, dass ein enger Freund, der in einem irakischen Lager für Binnenvertriebene lebte, Selbstmord begangen hatte. 

„Behörden haben sich Gerichtsbeschlüssen widersetzt“

Ohne einen vollständigen Abschiebe-Stopp lasse Deutschland eine immer noch traumatisierte Gemeinschaft im Stich, argumentieren KritikerInnen. Immer mehr deutsche Politiker haben sich dafür ausgesprochen, die Abschiebungen zu stoppen. Der grüne Oppositionsabgeordnete Max Lucks forderte zudem die sofortige Rückführung der Familie Qasim und den Rücktritt von Bamf-Präsident Hans-Eckhard Sommer.

„Es ist eine Schande, dass die Behörden sich den Gerichtsbeschlüssen widersetzt haben, eine jesidische Familie in ein Land abzuschieben, in dem sie weiterhin bedroht ist“, so Lucks gegenüber Qantara. „Wir tragen eine humanitäre Verantwortung, insbesondere angesichts des brutalen Völkermords an den Jesid:innen, den unser Parlament vor zwei Jahren anerkannt hat.“ 

Die Qasims bemühen sich derzeit rechtlich um eine Rückkehr nach Deutschland und warten aktuell auf die Entscheidung über ihren jüngsten Einspruch. „Unsere gesamte Zukunft ist verloren, hier gibt es nichts mehr für uns“, sagt Sandra. „Ich würde alles tun, um mein Leben in Deutschland wiederzubekommen.“

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

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