Zwang zur Selbsterneuerung

Die saudische Führung setzt auf zaghafte Reformen und will erstmals 2015 das Wahlrecht für Frauen einführen. Doch warum nicht schon viel früher? Darüber hat sich Abdelmoula Boukhraiss mit dem saudischen Bürgerrechtler und Journalisten Abdel Aziz Al-Khamis unterhalten.

Von Abdelmoula Boukhraiss

Warum dürfen sich die saudischen Frauen bei den jetzigen Kommunalwahlen noch nicht beteiligen?

Al-Khamis: Die Probleme der saudischen Frauen beschränken sich nicht allein auf die Frage des Wahlrechts. Sie fordern grundsätzlich mehr gesellschaftliche Rechte – wie z.B. die Gleichstellung von Mann und Frau oder auch das Recht, Auto zu fahren. Deshalb betrachten sie die Frage des Wahlrechts als eher formale Angelegenheit. Selbst die saudischen Männer haben ja bislang keine vollständigen politischen Rechte erhalten. Wir wissen, dass die Regierung den Frauen zunächst versprochen hatte, sie bereits an den jetzigen Wahlen zu beteiligen. Dieses Versprechen wurde jedoch nicht eingelöst.

Welche Bedeutung haben die Kommunalwahlen nach Ihrer Einschätzung im politischen Sinne?

Al-Khamis: Wahlen tragen immer zur Schaffung einer politischen Kultur bei, zur Kultur des Wählens und Kandidierens. Das ist vielleicht die wichtigste Frucht dieses Experiments. Allerdings ist dieses Experiment unzulänglich. Denn die Bürger wählen nur die Hälfte der Mitglieder für ihr kommunales Parlament. Zudem haben diese Gremien keine wichtigen Befugnisse, es sind beratende Gremien ohne Kompetenzen. Ihr Nutzen besteht für die Regierung und für das Regime darin, dem Westen zu demonstrieren, dass auch in Saudi-Arabien gewisse demokratische Reformen durchgeführt werden.

Frau schließt PKW ihrer Fanilie in Riad auf; Foto: dpa
Saudi-Arabien ist das einzige Land der Welt, in dem Frauen nicht Auto fahren dürfen. Familien sind gezwungen, Fahrer anzustellen.

​​Ein wichtiger Punkt ist aber tatsächlich, dass der saudische Bürger begonnen hat, sein Wahlrecht auszuüben. Das ist an sich schon eine neue Entwicklung, und bei dieser Entwicklung wird es bestimmt nicht bleiben. Der Druck des Volkes wird anwachsen – dahingehend, dass diese Gremien nun auch mehr Befugnisse bekommen sollen.

Die saudischen Machthaber könnten dennoch versucht sein, bereits den jetzigen Wahlgang im Ausland als eine Form der Demokratie zu verkaufen …

Al-Khamis: Ja, und genau das geschieht jetzt auch. Sie haben dies bereits bei den ersten Wahlen dieser Art 2005 so gemacht und davon profitiert. Damals hatten sie Kräften im Westen, die entsprechenden Druck ausüben, gezeigt: Wir organisieren hier einen politischen Wahlgang und haben damit begonnen, das Land aus einer Diktatur heraus in Richtung politischer Partizipation zu führen.

Abdelaziz Al-Khamis; Foto: &copy www.akhbaralarab.net
Abdelaziz Al-Khamis ist einer der bekanntesten Journalisten saudischer Herkunft. Er war Chefredakteur der arabischen Tageszeitung "Al-Sharq Al-Awsat" und Begründer der Zeitschrift "Al Majala". Zurzeit lebt er in London, wo er das "Zentrum für Menschenrechte in Saudi-Arabien" leitet.

​​Aber der Durst des saudischen Volkes nach weitgehender Beteiligung, nach einklagbaren politischen Rechten und nach gewählten Gremien mit echten Befugnissen ist ebenfalls nicht länger zu übersehen. Die jetzigen Kommunalwahlen haben zwar vor allem dekorativen Charakter –aber nach Ansicht vieler saudischer Bürger ist das besser als gar nichts. Aus meiner Sicht ist es zudem nützlich für die weitere Aufklärung über politische Rechte und für die Etablierung einer Kultur der Bürgerbeteiligung.

Sie betrachten diese Wahlen also quasi als Übung oder Vorbereitung von tiefgreifenden Reformen, die später einmal vorgenommen werden sollen. Ist das eine realistische Erwartung?

Al-Khamis: Dieser demokratische Prozess wird kommen – daran besteht für mich keinerlei Zweifel. Und am Ende wird sich die politische Führung der Demokratie und der politischen Beteiligung durch das Volk beugen müssen. Das ist das Schicksal eines jeden Regimes: Entweder es bricht zusammen oder es erneuert sich selbst. Natürlich will das Königshaus vorbeugend einwirken. Folglich ist es gezwungen, sich selbst zu erneuern. Die Frage ist nur, wann das Regime diesen Schritt tut. Ich hoffe allerdings, dass der Arabische Frühling diesen Prozess noch weiter beschleunigen wird.

Interview: Abdelmoula Boukhraiss

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de