''Verliebt in die mythischen Ritter''
Houria Aïchi stammt aus einer Berber-Volksgruppe, die sich Shawiya nennt und auf dem Aurès-Plateau im Nordosten Algeriens lebt, einem der östlichsten Ausläufer des Atlas-Gebirges. "Ich habe sehr starke Erinnerungen an meine Kindheit", bekräftigt Aïchi. "Die Kultur, in der ich aufwuchs, war geprägt von familiärem Zusammenhalt, von einem strikten Ehrenkodex und von einer Gesangstradition, wie sie nur in dieser speziellen Region existiert."
Wie bei den Berbern, die in der Kabylei leben, und ebenso wie bei den Tuareg, haben bei den Shawiya musikalisch gesehen die Frauen das Sagen, beziehungsweise das Singen: "Die Mädchen leben zusammen mit den Frauen in einem eigenen Hof, dort wachsen sie ganz natürlich in die Traditionen hinein. Es wird dort Theater gespielt, gedichtet, gestickt, getöpfert, es gibt Zusammenkünfte, bei denen man die Männer imitiert, sich richtig über sie lustig macht", sagt Houria Aïchi. "Und es wird natürlich auch gesungen, in einer Art und Weise wie sie seit den Anfängen unseres Volkes schon immer gepflegt und unter den Frauen von Generation zu Generation weitergegeben wurde."
Extreme Kopfstimme
Dieser Gesang klingt anders als alles, was die globale musikalische Popkultur zu bieten hat: Mit einer extremen Kopfstimme, auf dem Niveau der Nase werden die Töne produziert, gepresst und spitz klingt die Stimme, aber umso faszinierender.
Lernen könne man das nicht, so Houria Aïchi, die immer wieder gebeten wird, Gesangskurse zu geben. Nur wenn man die Musik schon im Mutterbauch höre, habe man die Möglichkeit, auch eine solche Stimme zu entwickeln. Für welche Art von Liedern wird diese charakteristische Stimmgebung genutzt? So viel sich die Shawiya-Frauen auf der einen Seite über die Männer mokieren, so verehrungswürdig sind sie zugleich. Berittene Hirten, die Cavaliers, spielen als Träger des Erbes eine herausragende Rolle bei diesem Volk der Hochgebirgsregion.
Der Prophet Mohammed als edler Reiter
Ihnen sind unzählige Lieder zugedacht, die von flammender Liebe sprechen und schillernde Metaphern gebrauchen: Da wird ein Ritter mit Quecksilber verglichen, der Prophet Mohammed gar als edler Reiter imaginiert.
"Als Mädchen war ich wie alle anderen enorm verliebt in diese Ritter mit ihrer imposanten Erscheinung. Sie kamen auf ihren Pferden daher, verschleiert, ganz in weiß gekleidet, und sie waren für mich damals halb reale, halb mythische Wesen! Ein ganz starkes Gefühl hat von mir Besitz ergriffen, und aus dieser Faszination für die Cavaliers nährt sich noch heute mein künstlerisches Leben."
Der frühe Bruch mit der Tradition
Zunächst vollzieht Aïchi, trotz ihrer starken traditionellen Prägung, wie viele ihrer Generation im modernen Algerien, den Bruch mit der herkömmlichen Biographie einer Berber-Frau. In den 1970er Jahren ging sie zunächst nach Paris, um Psychologie zu studieren. Doch sie blieb ihren Wurzeln auch mit der neuen Perspektive von außen treu, begann über die Gesänge des Aurès zu recherchieren, im "Musée des Hommes" etwa, wo sie Wachszylinder-Aufnahmen entdeckte, aber auch in der alten Heimat, wo sie immer wieder die Frauen besuchte und ihre Lieder aufnahm. Auch Ausflüge in andere algerische Regionen unternahm sie, um die "dhikr", die Sufi-Gesänge zu dokumentieren.
Diskurs zwischen zwei Musikwelten
Für ihr neues Projekt ist sie nun zu den edlen Rittern zurückgekehrt, hebt die höfische Poesie mit ihren Themen von Ritter, Dame und Pferd auf ein modernes Niveau. Die Vision verwirklicht sie zusammen mit dem Straßburger Quintett "L'Hijâz 'Car": "Seit langem schon hatte ich Lust, die Tradition des Aurès mit zeitgenössischen Klängen zu konfrontieren. Während meiner Karriere habe ich öfters mit Jazz-Musikern gearbeitet und ich wusste, dass es funktionieren würde. Ich hatte das Glück, dass Gregroy Dargent, der Leiter des Ensembles sich in meine Gefühlswelt und meine Erinnerungen hineindenken konnte.
Und so hat er es geschafft, Arrangements zu finden, die die Tradition nicht verraten. Es ist wirklich ein Diskurs zwischen zwei Musikwelten."
Moderne Spielart der Berber-Kultur
Stolz galoppierend und liebeslyrisch zugleich gibt sich diese Musik, der ein kühner Bogen von der vor-arabischen Zeit bis in die Weltmusik-Avantgarde gelingt. Die nasale, kraftgeladene Stimme Aïchis vereint sich mit kreisenden Männerchören und hauchender Flöten-Trance, Rahmentrommeln setzen die Beats, dazwischen winden sich Improvisationen auf Oud und Banjo, unterschwellige Bassklarinetten setzen Impulse. Dass Traditionspflege nicht das Bewahren der Asche sondern das Weitertragen des Feuers bedeutet, bewahrheitet sich hier eindrücklich: Mit Aïchis Projekt wird das Erbe der Aurès-Reiter in eine neue, mit kraftvollen Bildern aufgeladene Sprache übertragen – und die Berberkultur durch eine moderne Spielart fernab von Ethno-Pop erweitert.
Stefan Franzen
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