Auf Du und Du mit dem Terrorchef
Für diesen Terror ist Osama bin Laden – als Drahtzieher und Kopf von Al-Qaida – das Synonym schlechthin. Und niemand Geringeres als bin Laden ist daher auch der Empfänger des so ungewöhnlichen wie politisch brisanten Briefromans "Lieber Osama", den Chris Cleave, 1973 in London geboren und dort noch immer zuhause, nun als Erstlingswerk vorlegt.
"Lieber Osama, sie wollen dich tot oder lebendig, damit der Terror endlich aufhört. Obwohl, ich weiß nicht. Mit dem Rock'n Roll war ja auch nicht Schluss, als Elvis auf dem Lokus starb. Es wurde bloß schlimmer. Irgendwann hatten wir dann Sonny & Cher und Dexy's Midnight Runners. Aber dazu später. Was ich sagen will: Es ist viel leichter, mit so einem Scheiß anzufangen, als wieder damit aufzuhören. Ich nehme an, das weißt du selbst."
Wer da auf Du und Du ist mit Osama bin Laden, ist Cleaves namenlose, dafür aber äußerst schlagfertige Ich-Erzählerin, deren Zuhause das nach Frittenfett und Unterschicht riechende East End in London ist.
Endlich will sie diesem Propheten des fundamentalistischen Terrors einmal all das sagen, was ihr auf dem Herzen liegt seit jenem ersten Mai, an dem Osama – oder einer seiner vielen Gesandten – das Stadion in die Luft sprengte, in dem ihr Mann und ihr 4-jähriger Sohn beim Lokalderby das Heimspiel von Arsenal gegen Chelsea anfeuerten.
Schließlich hatte ihr Mann genau einen Tag vorher den lang ersehnten Entschluss gefasst, seinen gefährlichen Dienst beim Sprengmittelräumdienst zu quittieren und in Ruhe mit Frau und Kind zu leben.
Böser Witz und die – politisch nicht immer korrekte – satirische Zuspitzung der realen Verhältnisse gehören, so viel sei als Warnung vorweg gesagt, zu diesem Roman dazu, mit dem Chris Cleave in jener Wunde der Befindlichkeit rührt, in der sich der Westen seit dem geschichtsträchtigen Datum 9/11 befindet.
Zuflucht zu Männern
Auch die Ich-Erzählerin hat seit jenem Tag eine gewisse Befindlichkeit, denn immer wenn sie Panik hat, verspürt sie das Bedürfnis, mit einem Mann zu schlafen – also quasi jeden Tag.
Das tut sie auch just in dem Moment, als sie im Fernsehen perplex die Detonation des Stadions miterlebt. Nur dass der Mann hinter ihr nicht ihr eigener Mann ist, sondern ein reicher Armani-Fatzke – doch sowieso ist die Welt von dieser Sekunde an nicht mehr dieselbe.
"Die Kamera zitterte, plötzlich war der Ton weg. Alles wurde sehr, sehr still. Auch Jasper Black bewegte sich nicht mehr in mir drin. Ach du Scheiße, sagte er. Auch du verdammte Oberkacke. 1, zählte ich, 2, 3, 4. ... Dort, wo die Osttribüne war, formte sich die Nebelbank zu einer großen Blase aus Rauch und Feuer. Der Torwart lag flach auf dem Bauch und rührte sich nicht. Die Flammen walzten über ihn hinweg. Van Persie blickte immer noch seinem Schuss hinterher, folgte dem Ball mit den Augen. Doch jetzt flog der Ball wieder auf ihn zu und landete knapp neben ihm, zusammen mit einem Männerarm."
Man ahnt es: Cleave erspart seinen Lesern recht wenig – weder unappetitliche Details noch die unflätige Sprache seiner modernen Jeanne d'Arc, die so spricht, wie ihr das Herz und dem Volk der Mund gewachsen ist. Doch genau das ist das Stilprinzip des Romans: reality bites ...
Denn Cleave fängt zugleich den mentalen Wahnwitz ein, der sich in eine Gesellschaft schleicht, die auf Generalverdacht gestimmt ist. Und dafür ist auch ihm jedes Mittel recht: Slapstick und Komik, Kitsch und Karikatur – etwa, wenn Prinz William die Überlebenden im Krankenhaus besucht und von der Ich-Erzählerin besudelt wird, die sich übergeben muss, weil sie gerade erfahren hat, dass nur der Stoffhase ihres Sohnes übrig geblieben ist, wenn auch etwas verkohlt.
Es herrscht Krieg
Direkt hinter solchen schlechten Scherzen aber lauert die nackte Wahrheit in diesem Roman: Denn London wird – Parallelen mit der Gegenwart sind rein zufälliger Natur – in eine Hochsicherheitsfestung verwandelt. Und in der stellen alle Muslime ein Sicherheitsrisiko dar und sind daher als solche aus dem Verkehr zu ziehen.
Es herrscht Krieg, lautet naturgemäß auch die Parole von Terence Butcher, Polizeichef von Scotland Yard, an den sich die Ich-Erzählerin in ihrer Verzweiflung wendet, da er der Vorgesetzte ihres Mannes und vor langer Zeit auch einmal ihr Liebhaber war. Ein Krieg, in dem man gewillt sei, alle Grundsätze über Bord zu werfen.
Wie ernst der Westen dies meint, wird auch Cleaves Anti-Heldin erst allmählich klar. Denn Butcher gesteht ihr in einer schwachen Stunde, dass der Anschlag hätte verhindert werden können, doch sicherheitspolitisches Kalkül habe dagegen gesprochen.
"Ich weiß, das ist jetzt hart für dich, aber wenn wir die Terroristen damals gestoppt hätten, hätten sie gewusst, dass irgendwas im Busch ist. Sie hätten alles geändert. Hätten die Leute ausgetauscht, ihre konspirativen Wohnungen gewechselt, alles. Wir hätten unseren kleinen Vorsprung verloren, und das durfte nicht passieren. Es steht zu viel auf dem Spiel."
Nur bin Laden kann die Welt retten
Natürlich spielt Cleave auch mit politischen Verschwörungstheorien, wie sie noch heute im Umlauf sind zu den Anschlägen auf das World Trade Center. Dennoch ist die Botschaft klar – dass sich angesichts solcher Verhältnisse nur die Frage stellen kann, wer hier eigentlich verrückt ist: die drüben oder wir?
Cleave liefert daher zum Ende seines Romans einen so absurden wie allegorischen Showdown, der alle Ingredienzien hat, die das abgeschmackte Drehbuch der Realität schon längst geliefert hat:
Medienfuzzis, die mit Terror das große Geld machen; ein vermeintlicher Terrorist, der von Polizisten erschossen wird; und eine so liebenswerte wie lebenskluge Heldin, die zur seelischen Amokläuferin mutiert, da sie ahnt, dass nur noch einer diese ihre Welt retten kann: Osama bin Laden.
"Hör ruhig zu, Osama, denn es ist höchste Eisenbahn, dass du aufhörst, die Welt in Stücke zu bomben. Komm zu mir, Osama. Komm zu mir, und wir bomben sie wieder zusammen – mit wütender Macht und unvorstellbarem Getöse."
Das ist sicher nicht jedermanns Geschmack, aber ein lesenswerter Roman, der so bitterböse wie treffsicher agiert.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2006
Chris Cleave: Lieber Osama. Roman. Rowohlt Verlag 2006. 300 S.