Führt der Gaza-Krieg zum US-Abzug aus dem Irak?
Der irakische Premierminister Mohammed Schia al-Sudani fand deutliche Worte. Der Irak wolle einen schnellen und geordnet ausgehandelten Abzug der US-geführten Streitkräfte von seinem Territorium. Deren Präsenz wirke destabilisierend und könne zu einer Ausweitung des Krieges zwischen Israel und der Hamas über die Grenzen des Gazastreifens hinweg führen.
"Wir müssen die Beziehungen neu organisieren, damit die US-Präsenz für keine Partei, weder innerhalb noch außerhalb des Irak, als Rechtfertigung dienen kann, die Stabilität im Irak und in der Region zu manipulieren", sagte Sudani der Nachrichtenagentur Reuters.
Demgegenüber hatte der amerikanische Luftwaffen-Generalmajor Patrick Ryder laut Agenturmeldungen zuvor demonstrativ erklärt, von "irgendwelchen Plänen" für einen US-Abzug wisse er nichts.
Mehr als 100 Attacken auf US-Truppen
Al-Sudani bezog sich mit seinen Worten auf die mehr als 100 seit Beginn des Gaza-Krieges verzeichneten Angriffe auf US-Stützpunkte im Irak und in Syrien. Als verantwortlich dafür gelten vielfach vom Iran unterstützte, unter der Parole "Islamischer Widerstand im Irak" operierende Milizen.
Sie agieren im Rahmen eines multinationalen pro-iranischen Netzwerks, zu dem neben den Huthi-Milizen im Jemen auch die libanesische Hisbollah gehört, die von vielen westlichen und weiteren Ländern als Terrororganisation eingestuft wird. Das Bündnis bezeichnet sich selbst als "Achse des Widerstands".
Präsenz bereits deutlich reduziert
Zwar ist die Zahl der US-Soldaten seit dem Höchststand von rund 130.000 während der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 stark zurückgegangen. Doch immer noch sind rund 2500 amerikanische Soldaten im Irak stationiert. Die meisten von ihnen sind Teil der Internationalen Koalition im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS).
Die USA hatten auf die Angriffe gegen ihre Truppen und Einrichtungen bis vor kurzem überwiegend zurückhaltend reagiert. Bei einem Raketenangriff in Bagdad in der vergangenen Woche kam allerdings unter anderem der Kommandeur Muschtaq Dschawad Kazim al-Dschawari, ein ranghohes Mitglied der vom Iran unterstützten Miliz Harakat al-Nudschaba, ums Leben. Die USA rechtfertigten dies als Vergeltungsschlag.
Mitglieder der unter anderem von pro-iranischen Kräften getragenen irakischen Regierung - und ebenso al-Sudani selbst - kritisierten den Angriff als eklatante Verletzung der irakischen Souveränität. Er stelle eine "gefährliche Eskalation" dar.
Bereits vergangenen Freitag erörterte die irakische Regierung daher, die US-Truppen endgültig zum Rückzug aus dem Irak aufzufordern - und das keineswegs zum ersten Mal. Experten zufolge wäre dies, rein formell betrachtet, nicht einmal besonders schwierig. Nötig wäre letztlich lediglich ein offizieller Brief, da die US-Truppen auf Einladung der Regierung im Irak sind.
Wiederholte Aufforderung zum Abzug
Langjährige Beobachter des Irak wissen, dass Ankündigungen, die US-Kräfte des Landes zu verweisen, regelmäßig ausgesprochen werden. Der Konflikt im Gazastreifen, in dem die USA überwiegend als Unterstützer Israels agieren, hat dieser Forderung jedoch neuen Schwung verliehen. Die Tötung des Miliz-Kommandeurs Anfang Januar stellt in den Augen vieler eine Eskalation dar und rückt die Forderung noch stärker in den Mittelpunkt.
Viele Iraker diskutieren die US-Präsenz nicht nur wegen der umstrittenen Invasion von 2003, sondern auch, weil die USA als eines von zwei Ländern mit überdimensional großem Einfluss im Irak gelten. "Ein Teil der Iraker unterstützt Amerika, ein anderer den Iran", beschreibt der in den Niederlanden lebende ehemalige Fernsehjournalist und Politiker Abu Firas al-Hamdani die Situation in seinem Herkunftsland. "So wie die einen den Abzug der USA fordern, fordern andere den Abzug des Irans. Dann gibt es noch andere Iraker, deren Ziel die irakische Unabhängigkeit von beiden Staaten ist."
Irakische Regierung mit wenig Einfluss
"Die Debatte über die US-Präsenz hat sich von der Diskussion über die Anti-IS-Mission entfernt", sagt Sajad Jiyad, Stipendiat der Century Foundation und Autor eines neuen Buches über schiitische Politik und Religion, "God's Man in Iraq". Der Irak brauche nicht mehr so viel Unterstützung wie in der Vergangenheit, als vor allem der seinerzeit erstarkte sogenannte Islamische Staat bekämpft werden musste, so Jiyad: "Die Iraker dürften heute hinreichende Fähigkeiten haben, um den IS daran zu hindern, wieder einen großen Aufstand zu starten."
Allerdings böte die US-Präsenz Bagdad auch militärische Vorteile, meint Jiyad. Dazu zählten militärische Ausbildung, Logistik, Aufklärung, Unterstützung bei Operationen von Spezialeinheiten und Luftunterstützung, ferner der Zugang zu Informationen und hochwertiger US-Militärausrüstung.
Die USA ihrerseits sähen den Irak als einen Ort, von dem aus sie dem iranischen Einfluss entgegentreten können, so Jiyad. Auf diese Weise verfolgten die USA im Irak auch ihre eigenen strategischen Ziele. Allerdings würden die US-Stützpunkte auch deshalb als problematisch angesehen, weil die irakische Regierung über sie ebenso wenig Kontrolle habe wie über die vom Iran unterstützten militanten Gruppen.
"Die irakische Regierung kann die vom Iran unterstützten Milizen nicht daran hindern, US-Interessen anzugreifen. Und sie kann umgekehrt die USA auch nicht daran hindern, Vergeltung zu üben", so Jiyad gegenüber Deutschen Welle (DW). Diese könnten ohne irakische Erlaubnis Luftangriffe fliegen und tödliche Angriffe auf pro-iranische Kräfte unternehmen. "Das ist ein großes Problem und bringt die irakische Regierung in eine sehr schwierige Lage."
Entscheidung zunächst aufgeschoben?
Die USA hätten jedoch immer wieder deutlich gemacht, dass sie im Irak bleiben wollten. Ihnen zufolge könnten sich die Dinge im Irak und in der Region zum Schlechteren wenden, wenn sie komplett abzögen oder von den Irakern zum Abzug gezwungen würden, beschreibt Jiyad die Position Washingtons.
Die US-Regierung könnte sich nach seiner Einschätzung dann sogar schlimmstenfalls entscheiden, den Irak nicht mehr als Verbündeten sehen, sondern im Gegenteil womöglich als Verbündeten des Iran. Dies könnte Probleme mit sich bringen, so Jiyad - etwa die Androhung von Sanktionen, die mögliche Einbehaltung von in den USA eingelagerten Devisenreserven in Milliardenhöhe und ein Ende der militärischen Zusammenarbeit.
Zwar fordern vor allem pro-iranische Politiker und Aktivisten innerhalb und außerhalb des Irak immer lauter, die Amerikaner wegen ihrer Unterstützung Israels im Gaza-Konflikt zu vertreiben. Dass es dazu komme, sei allerdings unwahrscheinlich - hier sind sich alle von der DW befragten Experten einig.
Zwar wurde in Bagdad bereits offiziell ein Sonderkomitee gebildet mit dem Ziel, die US-Präsenz perspektivisch zu beenden. Solche Komitees gelten jedoch auch in der irakischen Politik als häufig verwendete Taktik, um kritische Entscheidungen zu vermeiden oder hinauszuzögern.
Tatsächlich hat auch Premierminister al-Sudani in seinem Interview mit Reuters für den von ihm zumindest verbal angestrebten US-Abzug keinerlei Frist gesetzt. Allerdings könnte eine neuerliche Eskalation - etwa die Tötung weiterer pro-iranischer Milizenkommandeure als Vergeltung für neuerliche anti-amerikanische Attacken - den Druck auf al-Sudani auch wieder erhöhen.
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp
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