Chronik des Grauens
Als Aktivistin, Journalistin und Schriftstellerin aus Taiz entschied sich die jemenitische Autorin Bushra al-Maqtari bereits zu Beginn des Jemenkonflikts, durch das vom Krieg verwüstete Land zu reisen, um die Stimmen ihrer leidgeprüften Landsleute einzufangen. Sie besuchte die Familien der Kriegsopfer und schilderte die tragischen Geschichten ihrer Nächsten und Liebsten, die entweder durch brutale Bombardierungen, wahllose Beschießungen und Raketenangriffe getötet oder verstümmelt wurden.
In ihrem Buch "What you left behind? Voices from a forgotten war-torn", bisher nur in arabischer Sprache vom Beiruter Verlag Riad El-Rayyes veröffentlicht, geht es Al-Maqtari weniger darum, chronologische Fakten und Zahlen zu ordnen oder die politischen Facetten des Konflikts zu beleuchten, als vielmehr den zivilen Opfern eine Stimme zu verleihen. Gewiss sind die dramatischen Geschichten derer, die durch den Krieg verwundet, verwitwet, verwaist oder vertrieben wurden, nichts für schwache Nerven. Es ist eine Dokumentation des Schreckens.
Auffallend ist, dass sie in "What you left behind?" die gleiche Erzähltechnik verwendet wie in ihrem früheren Roman "Behind the Sun" aus dem Jahr 2012, der sich mit der Problematik des erzwungenen Verschwindens im Jemen beschäftigt. "What you left behind?" befasst sich in dem schwelenden Konflikt mit den Stimmen und Erinnerungen der Opfer, die heute noch am Leben sind. Dabei wird deutlich, dass Zivilisten stets die Verlierer in bewaffneten Konflikten sind. Sie leben in einem Zustand ewiger Angst und werden von der Außenwelt kaum wahrgenommen. Die Folter und der Schmerz, den sie erleiden, werden in der Regel auf reine Daten und Zahlen reduziert, der Konflikt wird dadurch entpersonalisiert. In den Statistiken tauchen sie lediglich als eine bestimmte Größe auf – als Tote, Verwundete und Vertriebene in einem nicht enden wollenden Konflikt.
Die erschütternden Berichte in "What you left behind" beginnen mit den tragischen Geschichten der Kriegsopfer in Sanaa. Al-Maqtari schreibt, dass es Fälle gibt, in denen man buchstäblich den Geruch verbrannten menschlichen Fleisches wahrnimmt, der nach Angriffen oft tagelang in der Luft liegt.
Tod und Zerstörung sind allgegenwärtig
In der südwestlich gelegenen Stadt Taiz, die gegenwärtig von den Huthis belagert wird, sieht die Lage ähnlich verheerend aus: Die Stadt ist ein regelrechter Schauplatz der Zerstörung, Taiz gleicht einem Trümmerfeld aus zerstörten Gebäuden und heruntergekommenen Durchgangslagern, die von Menschen bewohnt werden, die von den Milizen aus ihren Dörfern vertrieben wurden.
Man kann die Angst in den Augen dieser geflohenen Menschen förmlich spüren, schreibt die Autorin. Es sind Menschen, die sich in die unwirtlichen Gebirgspässe zurückgezogen haben, um der Huthi-Belagerung zu entgehen.
Als Journalistin aus dem nördlichen Jemen war es für Bushra al-Maqtari nicht einfach, viele Teile des Südens zu bereisen, da die meisten Orte mittlerweile von Streitkräften der Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kontrolliert werden. Einmal wurde sie sogar an einem Ortseingang in der Ortschaft Dhala vorübergehend festgenommen, da sie keine offizielle Einreisegenehmigung der VAE-Beamten vorweisen konnte.
Die Hafenstadt Hodeidah am Roten Meer war die riskanteste und schwierigste Station auf ihrer Recherche-Reise in den vom Krieg zerrissenen Gebieten.
Als die Milizen in Hodeidah damit begannen, wahllos Journalisten zu verhafteten, die zuvor versucht hatten, in die Stadt zu kommen, täuschte Al-Maqtari die Milizionäre, indem sie sich in ein traditionelles jemenitisches Gewand hüllte und damit ihr Gesicht bedeckte.
Glücklicherweise wagten es die Milizen nicht, die Gesichter jedes Reisenden aufzudecken, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Nach ihrer Ankunft in Hodeidah besuchte die Journalistin Krankenhäuser in Hodeidah und sprach dort mit schwerverletzten Kriegsopfern, die sich dort zur Behandlung aufhielten. In Hodeidah wurde sie auch Zeugin tödlicher Streubombeneinsätze gegen Zivilisten.
Den letzten Teil ihres Buches widmet Al-Maqtari ihrer Freundin Reham Badr, die ihr während des gesamten Schreibens beiseite stand und nicht warten konnte, bis ihr Buch endlich erscheint. Doch hierzu kam es nicht mehr: Reham Badr und ihr Freund Mamoun al-Sharabi wurden von einer von Huthis gelegten Bombe im östlichen Teil von Taiz getötet, als sie gerade die von den Rebellen eingeschlossenen Familien mit Hilfsgütern versorgten.
Gegen das Vergessen
Die systematische Bombardierung ziviler Ziele ist im Jemen nichts Ungewöhnliches. Einer dieser Orte, die hiervon besonders betroffen war, war das Dorf Al-Huraidha, wo es keine Baracken, Patrouillen oder Militärlager gab. Dort existierten nur noch wenige Häuser, die überwiegend von verarmten Familien bewohnt wurden, eine Autowerkstatt sowie ein beliebter Markt. "Wir versuchten uns in Sicherheit zu bringen, doch sie kamen und bombardierten den Ort, wobei sie die gesamte Familie meines Bruders auslöschten", zitiert Al-Maqtari einen Bewohner aus Al-Huraidha namens Ahmed Abdul Hamid. Als dieser nach dem Bombenangriff das Haus seiner Angehörigen betrat, sah er überall nur noch verstümmelte menschliche Körper umherliegen.
Und Nusseibeh Abdul Malik erzählt schließlich ihre Geschichte von den Huthi- und Saleh-Milizen in der Stadt Taiz: Dort hatte ein Schrapnellangriff ihre Tochter Reem und neun weitere Menschen schwer verletzt. In der Hauptstadt Sanaa verlor Sabah Ahmed Fari durch Bombardements der von Saudis geführten Militärkoalition auf einen Schlag ihre 19-jährige Tochter Noura, ihren fünfjährigen Sohn Shihab, zwei Freunde ihrer Tochter sowie einige ihrer Nachbarn.
Mit ihren "Chroniken des Grauens" will Al-Maqtari den Leser nicht nur vor dem Vergessen und Verdrängen bewahren. Indem sie die persönlichen Schicksale in den Mittelpunkt ihres Buches rückt, macht sie auch deutlich, wie sinnlos und vergeblich Kriege sind – ungeachtet der fadenscheinigen Vorwände, unter denen sie geführt werden.
Denn wenn die Wucht des Krieges eines Tages nachlassen wird, die regionalen Rivalen sich auf einen Waffenstillstand einigen und ausländische Unternehmen einladen, das Land wieder aufzubauen, werden wohl allein diese Chroniken die Erinnerung an diesen grausamen Krieg wachhalten.
Muhammed Nafih Wafy
© Qantara 2018
Muhammed Nafih Wafy ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt derzeit in Maskat, Oman. Zuletzt erschien "Das Buch der Aphorismen", eine Übersetzung des "Kitab al-Hikam".